Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
denn keiner etwas bemerkt? Das muß doch jemand gehört haben! Ein Rolladen läßt sich doch nicht so leise öffnen wie ein Vorhang im Theater! Dazu die Glasscherben! Hier wohnen doch Leute! Und die Vespafahrer nachts!«
Die Tabakfrau lächelte nachsichtig. »Hier mischt sich niemand gern ein, das wissen Sie doch. Und selbst wenn … Bis die Polizei da ist, wenn sie überhaupt kommt, sind die Räuber längst über alle Berge. Und wenn sie geschnappt werden … Dann landen die Kerle hinter Gittern, und da lernt man alles mögliche, aber kein anständiges Leben. Dann kriegen sie einen Prozeß oder auch nicht, weil die Zeiten mal wieder überschritten wurden, und wenn sie wieder rauskommen, geht alles weiter wie vorher. Was soll man machen? In den letzten zehn Jahren hat sich das Leben hier sehr verändert, zum Schlechten. Seit ich den Laden von meinen Eltern übernommen habe, gibt es jedes Jahr ein oder zwei Einbrüche. Vorher kaum. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern.«
Marlen wußte nicht, was sie sagen sollte. Besser gesagt: Sie hatte nichts zu sagen zu dieser Aussichtslosigkeit, die sich in den Worten der Tabakfrau über sie ergoß. Aber es machte sie wütend: aus dem täglichen Leben, Cronaca , mit einem anderen Beigeschmack als auf Zeitungspapier.
»Vielleicht sollte ich lieber über Kleinkriminalität schreiben«, murmelte sie verdrossen. »Einbrüche in Tabakläden, Handtaschendiebstahl, kleine Überfälle mit Pfeil und Bogen…«
»Das ist doch nur die Spitze des Eisbergs«, erwiderte die Tabakfrau. »Was heißt Eisberg. Drogen, das ist es, was dahintersteckt. Geld. Wer an der Spritze hängt, dem ist es egal, wer sonst noch auf der Strecke bleibt. Das eigene Leben, das Leben anderer …« Sie starrte auf ihre Finger, die sich am Tresen festklammerten. »Eine beschissene Stadt«, zischte sie, und ihre anfängliche Gleichmut zerbrach wie eine Eierschale. Heraus schlüpften, ein Trupp kleiner Krokodile, all die Gefühle, die sich üblicherweise in resignativen Kommentaren versteckten. Oder – wie im Fall der Tabakfrau – direkt in den Bäuchen der Leute verschwanden, in Form von Fett, als Magengeschwür.
»Seit dem Erdbeben ist das so«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte vor Zorn und Ohnmacht. »Seitdem hat die Stadt Risse bekommen. So viele Häuser wurden zerstört und nie wieder aufgebaut. Als würden sich die jungen Leute das zum Vorbild nehmen, ein Leben als Provisorium. In Ewigkeit. Ganz ohne jedes Amen. Oder sogar mit. Es ist völlig egal. So ist das.« Sie lachte bitter. »Und wer kann ihnen schon einen Vorwurf daraus machen. Andere Vorbilder haben wir eben nicht mehr zu bieten. Politiker? Die Kirche? Eine ehrbare Familie? Jeder schlägt sich durch, auf mehr oder weniger krummen Pfaden.« Ihre Augen funkelten, ihre Faust sauste auf das Holz. »Willkommen in dieser beschissenen Stadt! Bentornata, cara! « Dann atmete sie tief durch.
Marlen legte den Stapel Zeitungen, den sie die ganze Zeit unter den Arm geklemmt hielt, auf dem Tresen ab. »Vielleicht können Sie die ja irgendwann wieder brauchen…«
Die Tabakfrau starrte auf die Zeitungen, brach dann in ein herzhaftes Gelächter aus. »Großartig! Sie haben den nötigen Galgenhumor! Zeitungen! Verpackungsmaterial für nichts, ein schöner Gedanke! Ich danke Ihnen!« Sie stand ein wenig schwerfällig auf. »Kommen Sie. Gehen wir nach hinten, für einen Espresso ist immer Zeit. Hier ist es zu ungemütlich, zwischen all den leeren Regalen. Außerdem«, setzte sie mit einem spitzbübischen Lächeln hinzu, »muß ich mir jetzt keine Sorgen darum machen, daß was geklaut wird. Praktisch, was?«.
Marlen fand, daß es eher die Tabakfrau war, die über Galgenhumor verfügte.
Die Gespräche zwischen ihnen waren mit jedem von Marlens Neapel-Besuchen herzlicher geworden, intensiver. Früher, als Marlen Luft und Lungen täglich an die vierzig Glimmstengel hatte zukommen lassen, war sie zum Zigarettenkaufen immer zur Tabakfrau gegangen, auch wenn die Schmuggelware an der Via Roma billiger war. In der Zeit danach hatte sie statt dessen Schokolade, Seife, Postkarten gekauft, irgendetwas, wofür sie irgendwann Verwendung haben würde. Aus den sporadischen, oft wortlosen Dialogen über den Holztresen hinweg wurden im Lauf der Zeit Gespräche über Kinder und Mütter, Krankheiten, Schule, Arbeit, das Leben in Germania , das Leben in Napoli . Die Tabakfrau hatte eine Tochter im gleichen Alter wie Luzie, Marlens Tochter, die früher auf Reisen immer mit von
Weitere Kostenlose Bücher