Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
Zügen, was sie von den letzten Septembertagen 1943 wußte, die als quattro giornate di Napoli in die Geschichte eingegangen waren. Oder eher, wie sie dachte, in der Geschichte eingegangen waren – regionale, randliche Episoden im Schatten eines weltumfassenden Krieges, von dem man in hundert Jahren gerade noch die Eckdaten, die Namen Hitler, Berlin, Hiroshima und die Begriffe Alliierte, Konzentrationslager und Judenvernichtung erinnern würde, was das mindeste und bestenfalls zu hoffen war.
In diesen letzten Septembertagen 1943 hatte sich die neapolitanische Bevölkerung – allein und ohne jede Unterstützung der Alliierten, die noch 60 km weiter südlich vor Salerno kämpften – von der Besatzung durch die Deutschen befreit. Sie aus der besetzten Stadt gejagt. Eine Gegenwehr mit geklauten Gewehren, List, Tücke, Stuhlbeinen, fast alle hatten mitgemacht, Frauen, Kinder, alte Leute.
Die Tabakfrau nickte. Die quattro giornate waren Teil der Volkslegende dieser Stadt wie der Aufstand des Fischers Masaniello im 17. Jahrhundert oder die gloriose erste Eisenbahnfahrt von Neapel nach Portici. Sie fragte Marlen, ob sie den Film gesehen habe.
»Welchen Film?«
» Le quattro giornate di Napoli , ein alter Film aus den sechziger Jahren, er läuft alle Jahre wieder im Fernsehen und wird in den Schulen gezeigt, der Regisseur heißt Nanni Loy.«
Marlen hatte noch nichts davon gehört. Klang vielversprechend. Vielleicht gab es eine Videoaufzeichnung. Sie würde Livia fragen.
»Mein Vater war mit dabei«, sagte sie. »Er war damals Soldat und in Neapel stationiert und wurde verletzt.« Ein Thema, das ihr Vater nie berührte, so sehr berührte es ihn.
Die Tabakfrau sah sie erstaunt an. Ihr Erstaunen galt jedoch weniger der Tatsache, daß Marlens Vater als deutscher Soldat in die Geschehnisse an den vier legendären Tagen Ende September des Jahres 1943 verwickelt war, als dem Vorhaben Marlens, etwas darüber zu schreiben: über Dinge, die sich zu einer fremden Zeit an einem fremden Ort abgespielt hatten.
»Schon als ich zur Schule ging«, sagte sie, »war der Krieg ein Gekritzel aus Buchstaben und Strichmännchen an der Tafel, das nach dem Unterricht mit einem nassen Schwamm abgewischt wurde. Aus und vorbei. Die Gegenwart ist für uns so allgegenwärtig, daß alles andere dahinter verbleicht. Was gestern war, was man für die Zukunft erhofft – Legenden, Träume.« Sie strich sich über die Haare, schüttelte den Kopf. »Ich könnte Ihnen nicht einmal sagen, wo mein Vater war in diesem Krieg. Wir haben nie darüber gesprochen. Die Gegenwart war immer stärker. Jetzt liegt er seit zehn Jahren unter der Erde. Seine Erlebnisse hat er mitgenommen. Lebt Ihr Vater noch?«
Marlen nickte.
»Dann fragen Sie ihn doch einfach, was er damals durchgemacht hat.«
Wenn das so einfach wäre. Marlen versuchte zu erklären, wie oft sie und ihre beiden Schwestern den Vater regelrecht belagert und nach dem Krieg gefragt hatten, wie der Vater gewöhnlich die Fühler einzog und unter seinen Schweigepanzer kroch. Sie hatten sich an die Mutter gewandt, doch nicht einmal ihr hatte der Vater seine Erinnerungen an vertraut
»Ich werde meine Mutter fragen«, sagte die Tabakfrau »Sie müßte sich an diesen September 1943 erinnern. Mein ältester Bruder war damals schon auf der Welt. Wie lange ist das her? Fünfzig Jahre? Ein halbes Jahrhundert. So weit reicht mein Archiv nicht zurück.«
Irgendwer rief aus dem Laden, vermutlich der Barjunge, die Tabakfrau verschwand. Marlen blickte ihr stirnrunzelnd nach. Das ist es, dachte sie. Sie hat abgenommen. Sie ist immer noch dick, aber nicht mehr so dick wie früher. Marlens Blick glitt hinüber zu den Fotos, die an der einzigen freien Wand hingen. Sorgfältig gerahmte Familienfotos, in Farbe, in Schwarzweiß. Die Eltern der Tabakfrau: eine dicke Frau, der Tabakfrau sehr ähnlich, daneben ein eher dünner Mann mit Schnauzbart und Schiebermütze und gutmütigem Blick, dazu vier Kinder und ein Baby. Daneben die nächste Generation, bereits in Farbe: die Tabakfrau und ihre vier Kinder in jungen Jahren. Am rechten Rand des Fotos ragte ein schwarzer Schuh ins Bild, einziger Hinweis auf den Vater und Ehemann, der offensichtlich der Schere zum Opfer gefallen war – beziehungsweise einer anderen Frau.
»Kurz nach der Geburt von Anna«, hatte die Tabakfrau an jenem Abend vor zwei Jahren in der Trattoria erzählt, »ist er verschwunden. Auf Nimmerwiedersehen. Später kamen Karten, viermal pro Jahr, zu den
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