Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
Geburtstagen, einmal kam er selbst, hatte kein Geld, wollte wieder zurück, weinerlich – widerlich. Auch die Kinder waren dagegen.« Seither hatte er sich nie wieder blicken lassen.
Die Tabakfrau war nur fünf Jahre älter als Marlen, doch schien sie einer anderen Generation anzugehören, einer anderen Art von Leben. Viele Frauen in diesen Vierteln waren in Wirklichkeit viel jünger als sie wirkten. Sie trugen deutlich ihre Jugend und das schnelle Altern im Gesicht, das Kinderkriegen, die frühe Ehe, dazu viel Schminke und auffälligen Schmuck, einen Überdruß am täglichen Leben, der als Stolz zurechtgemacht wurde. Die meisten dieser Frauen nahmen im Lauf der Zeit an Umfang zu wie Baumstämme, die sich mit Jahresringen umgeben. Sie schoben sich durch die Gassen, kauften am Wochenende Fleisch für viele hungrige Münder, saßen einmal wöchentlich beim Friseur und brachten den Rest der Woche zwischen Küche, Kindern, Wäsche, Marktständen, Männern und Gerede in den Läden rum. Sie machten einen robusten Eindruck und schauten fortwährend mißtrauisch in die Gegend, als sei ihnen seit Jahrzehnten nichts Schönes mehr widerfahren.
Mit achtzehn Mutter, dachte Marlen. Vielleicht ist das unsere einzige Gemeinsamkeit. Nur daß Luzie ihr erstes und einziges Kind geblieben war. Bei der Tabakfrau hingegen: vier Kinder in sechs Jahren. Und mit dem Unterschied, daß Marlen den Erzeuger ihrer Tochter weder ehelichen wollte noch mußte. Daß Marlen – mit tatkräftiger Hilfe ihrer Mutter – das Kind behalten und studieren und einen Beruf hatte erlernen können, während die Tabakfrau, ans Haus und die Kinder gefesselt, immer dicker und die Familie immer größer geworden war. Marlen hörte die Schritte der Tabakfrau hinter sich, sie war in die Fotos versunken, oder besser gesagt in die Gedanken, die sie wachriefen.
Später erkundigte sich Marlen bei der Tabakfrau, wie es den Kindern ginge. Das Gesicht der Tabakfrau bewölkte sich. Sie begann, mit dem Löffel in der leeren Espressotasse zu rühren, immer energischer, Blech, mit einigen Zuckerpartikeln versehen, auf Porzellan kratzend. Massimo sei bei der Caremar, auf der Route Pozzuoli-Ischia, Giuseppe beim Militär, in der Nähe von Padova, Paolo arbeite, wie gesagt, bei der Telefongesellschaft.
»Und Anna?«
»Ach, Anna«, sagte die Tabakfrau und ließ den Löffel auf den Tisch fallen.
»Was ist mit Anna?« fragte Marlen vorsichtig. »Ist sie etwa schwanger?«
Die Tabakfrau lachte kurz auf, überrascht, bitter. »Gott bewahre! Da bin ich ihr hoffentlich schlechtes Beispiel genug! Nein, schwanger ist sie nicht. Würde ich mir denn lieber wünschen, daß sie ein Kind bekommt?« sagte sie wie zu sich selbst. »Ein Kind ist wenigstens lebendig und bringt Zukunft … Nein, kein Kind, nicht jetzt, wenn sie überhaupt Zukunft haben soll, aber wenn sie so weitermacht …« Sie starrte vor sich hin, zeichnete mit dem Finger die Sonnenblumen auf der Tischdecke nach. »Anna ist in schlechte Kreise geraten, wissen Sie, Sie wissen ja auch, wie das läuft, da kann man als Mutter reden und reden, aber seinem Kind die Freunde ausreden ist so ziemlich das Schwierigste, was es gibt.« Sie starrte in die leere Espressotasse. »Jetzt ist sie schon beim Heroin angelangt. Woher sie das Geld nimmt, keine Ahnung.«
Marlen fröstelte. Anna Balzano war nur ein halbes Jahr älter als Luzie. Anna sei hübsch und schlank und immer unterwegs, hatte die Tabakfrau vor zwei Jahren erzählt, und daß die Mädchen mit fünfzehn, sechzehn so viel weiter seien als früher, äußerlich zumindest. Und so tun, als wüßten sie alles besser, hatte Marlen ergänzt. Sie und die Tabakfrau hatten gelacht und sich eingestanden, daß sie selbst in dem Alter auch alles besser gewußt hatten und hübsch und schlank und sorglos gewesen waren. Die stolzen Mütter. Sie hatten Anekdoten aus der eigenen Jugend hervorgekramt und Anekdoten aus der Kindheit ihrer Kinder. Wie es kam, daß sie beide mit siebzehn schwanger geworden waren. Wie die Eltern reagiert hatten. Wie der Erzeuger Luzies das Weite gesucht und wie der Erzeuger Annas sich aus dem Staub gemacht hatte. Erlebnisse, die im Lauf der Zeit zu Anekdoten geronnen und wieder erzählbar waren. Sie hatten sogar über Verhütung gesprochen und über die Angst, daß ihre Töchter ähnliche Fehler machen würden wie sie selbst. An Drogen hatten damals weder Marlen noch die Tabakfrau gedacht.
»Wie lange schon?« fragte Marlen.
»Drei, vier Monate, vielleicht auch
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