Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
Marlen.
»Jean?« Livia nickte.
»Verliebt?«
»Quatsch«, wehrte Livia ab. »Verliebtsein ist anders, Verwirrung rundum, Schwitzen, die Angst, du sagst das Falsche, und der andere ist ein Rätsel und du dir selbst noch mehr, und die Verzauberung löst sich nicht mit einem Schlag auf wie im Märchen, sondern bleibt bestehen, über Wochen und Monate hinweg. Nein, verliebt bin ich nicht, noch nicht jedenfalls, aber ich hätte nichts dagegen, ein wenig mehr davon zu kosten und die Geschichte weiter auszureizen…«
»Du hast wenigstens einen Mann aus Leib und Seele, an den du dich halten kannst«, sagte Marlen.
»Bleibt die Frage, womit man besser fährt…«, grinste Livia. »Und was bleibt.«
29
Marlen hielt die Augen geschlossen. Sie tat, als schliefe sie, und führte sich selbst damit hinters Licht. Auf diese Weise gelang es ihr, den letzten Zipfel des nächtlichen Traums zu erhaschen: Fritz, der mit einer ihr bislang verborgen gebliebenen Unerschrockenheit, noch dazu ohne Helm, auf einer Vespa durch die engen Gassen Neapels brauste. Ihm waren die Haare ausgefallen, er hatte jetzt eine Halbglatze, und im Traum war klar, daß das einzig und allein dem Tragen des Helms zuzuschreiben war. Fritz war guter Dinge und entschlossen, alle Angewohnheiten hinter sich zu lassen, die zum Verlust von Haaren wie Potenz führten, wie zum Beispiel Abendbrot zu dritt mit Körnerbrot, Aufschnitt, Käse und Küchenlampenlicht. Sie sah nun, daß Fritz nicht allein war. Auf dem Sozius hockte Luzie mit kurzgeschnittenen, grün eingefärbten Haaren und einer lila Jeansjacke mit der Aufschrift fuck the duck . Sie schwenkte ein Gemälde durch die Luft, das offenbar zum Rahmen gebracht werden sollte, ein Portier aus der Tate Gallery hatte es ihr in die Hand gedrückt. Auf dem Bild war ein Engel zu sehen, dessen Flügel im Fahrtwind flatterten, die Vespa zischte haarscharf um eine Häuserecke. Marlen lief in Joggingklamotten hinterher, doch sie kam nicht schnell genug voran, einige Leute feuerten sie an, andere lachten sie aus, schließlich schnappte die Tabakfrau sie an einem Arm und zog sie von der Straße weg in den sicheren Laden, als müsse sie sie vor einem Verfolger retten, der Laden war dunkel und roch muffig, es war einer dieser unterirdischen Räume, der Tisch war bereits gedeckt, die Mutter der Tabakfrau stand einladend neben dem Alten aus der Trattoria vor einer riesigen Schüssel Spaghetti und klingelte fröhlich mit dem Weihnachtsglöckchen…
Es war das Telefon: Luzie aus London. Sie teilte ihrer Mutter, die sich verschlafen die Augen rieb, fröhlich mit, sie sei völlig blank und habe sich von einer Freundin Geld gepumpt, um die letzten drei Tage noch über die Runden zu kommen, London sei klasse, gestern hätten sie eine Versteigerung bei Sotheby’s miterlebt, heute stehe ein Besuch in der Tate Gallery auf dem Programm, und im Sommer wolle sie unbedingt nach Cornwall zum Surfen und gleich sei das der letzte…
Damit war das Gespräch beendet, das letzte Fivepencestück durchgerattert. Marlen sah auf die Uhr: kurz nach neun. Sie war jetzt hellwach und der Traum endgültig verschwunden. Sie erinnerte sich nur noch an die Mitwirkenden, die Tabakfrau, Fritz, Luzie, spürte die Atemlosigkeit, die Ohnmacht, die dieser periodisch wiederkehrende Traum vom Laufen wie in Pfannkuchenteig stets mit sich brachte. Unter der Dusche dachte sie mit einer zärtlichen Aufwallung an Luzie, die am Sonntag aus England zurückkam. Vielleicht lag es an dem Traum, jedenfalls verspürte sie immense Lust, Fritz zu sehen, und zwar so wie vor zehn Jahren, als sie sich gerade erst kennengelernt hatten. Beim Frühstück schrieb sie ihm eine der Ansichtskarten, die die Tabakfrau ihr geschenkt hatte, die mit dem von Geröll verschlossenen Schlund des Vesuvs. Vielleicht sehnte sie sich nach etwas Vertrautem, zumal dieser Salvatore immer mehr zu einem Phantom wurde.
Was ihr den Tagesplan vergegenwärtigte. Sie rief bei der LAES an, um sicherzugehen, daß im Verlauf des Vormittags jemand im Büro sein würde. Sie schlug im Telefonbuch nach, ob ein Dante oder ein Ciro Carotenuto verzeichnet war, hatte doppelt Glück, denn erstens brauchte sie nicht schon wieder auf Giorgios Dienste zurückgreifen – allzu viele Informationen und Gefallen würde sie ihm nie zurückzahlen können, ein wenig befürchtete sie künftige Rückerstattungsansprüche – und zweitens wohnte dieser Carotenuto, mit welchem Vornamen auch immer, im historischen Zentrum. Sie konnte
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