Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
Prostitution aller Bevölkerungsschichten, sinkende Preise für Kinderfleisch und steigende Preise für Lammfleisch und die allerhöchsten für einen schwarzen US-Soldaten, der die hungernden Familien mit Lebensmitteln versorgte und dafür für eine kurze Zeit mit aufgenommen wurde in Herzen und Frauenleiber; das qualvolle Ende Tausender von Neapolitanern, die in der eingestürzten Grotte in Santa Lucia Schutz gesucht hatten vor den Bomben; die Gruppen von Scugnizzi, die bei dem Versuch starben, mit brennenden Strohbündeln Panzer in Brand zu setzen; die Mädchen, die den durstigen Deutschen, die im Bauch der in der Sonne glühenden Panzer eingeschlossen waren, Trauben anboten, und dann, sobald die Soldaten die Luken öffneten und sich hinausbeugten, um die Gabe in Empfang zu nehmen, wurden sie aus dem Hinterhalt mit einem Hagel von Handgranaten umgebracht.
Marlen klappte das Buch zu. Malaparte war unerträglich, aber auch die Geschichte war unerträglich, und insofern wai Malapartes Vorgehen legitim.
Ebenso drastisch und unverblümt waren die Schilderungen Signor Uccellos ausgefallen, den sie am Nachmittag aufgesucht hatte. Der Mann war knapp achtzig, aber im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Er hatte vor fünfzig Jahren als Fahrer beim Leiter des Grande Archivio del Regno di Napoli gearbeitet. In dem Archiv wurde eine im fünfzehnten Jahrhundert unter König Alfonso I. von Aragon gegründete Sammlung von Justizakten aufbewahrt, außerdem eine ebenso einzigartige Sammlung von Dokumenten, die bis ins siebte Jahrhundert zurückreichten. Sämtliche Schriftstücke waren im Verlauf des Zweiten Weltkriegs aus Angst vor Luftangriffen aus dem Archiv ausgelagert und unter absoluter Geheimhaltung in der Privatvilla des Leiters untergebracht worden. Ob durch Bestechung, Verrat oder ausgefeilte Spitzelei, das Versteck wurde entdeckt, und – symbolische Rache für den Tod zweier deutscher Soldaten, wie bei Malaparte beschrieben – die insgesamt mehr als fünf Millionen Schriften 1943 in Brand gesetzt: eines von unzählbaren Verbrechen am Abgrund der Vergessenheit – auf Grund von Unwissenheit, Scham, Überfluß an Schändlichkeiten.
Giovanni Uccello war Augenzeuge der Schriftenverbrennung und als solcher in einer Fußnote des Buches über die quattro giornate erwähnt. Er war eine der wenigen Personen, die bereit waren, sich mit Marlen zu treffen, sich zu erinnern. Er hatte beim Erzählen nicht viel Aufhebens um die Sache gemacht, nur Fakten wiedergegeben: das plötzliche Auftauchen schwerbewaffneter deutscher Soldaten, die dann das Verminen der einzelnen Räume der Villa vorgenommen hatten, das Ausschütten der Benzinkanister, ein einziges Streichholz war genug. Und eine halbe Stunde später war von den Millionen an Dokumenten nicht mehr übrig als eine Schicht schwelender Asche. »Sie haben gewußt, was sie taten«, hatte Signor Uccello gesagt, »sie haben es mit eigenen Augen gesehen, daß es Papier war, Schriften, Dokumente, Bücher. Vielleicht waren sie schon völlig abgestumpft, als Soldat muß man ja abstumpfen nach soundsoviel Toten und Verletzten. Was ist da schon ein Buch, werden die gedacht haben, ein Haufen Zahlen, Worte, Papier.« Was er selbst gefühlt habe? »Ich war froh, daß die sich nicht mich für ihre Rache ausgesucht haben«, hatte Signor Uccello schlicht geantwortet. »Einen einfachen Chauffeur. So egoistisch ist der Mensch: Ich war froh zu überleben.«
Es hatte auf gehört zu regnen, und die Luft war klar. Es duftete intensiv, als Marlen vor die Tür trat und tief durchatmete. Genug Kriege, Kriegsberichte, Überlebenskämpfe. Doch wie hatte die Tabakfrau gesagt? Der Krieg von damals, der ist vorbei, der Krieg von heute zieht ganz andere Kreise. Sie schüttelte sich und beschloß, auf einen Sprung im Chiatamone vorbeizugehen, um auf andere Gedanken zu kommen. In dem Lokal spielte jeden Freitag abend eine Band.
Sie warf das schwarze Jackett über und schloß die Glastür, durchquerte den Vorgarten, verriegelte auch das eiserne Tor und ging zielstrebig durch die dunklen, menschenleeren Gassen bis zur Via Roma hinunter. An den Ecken der Gassen, die wie eine Vielzahl von Zuflüssen der Quartieri Spagnoli in die Via Roma mündeten, hockte irgendwer hinter einem provisorischen Stand aus Sperrholzkisten und verkaufte geschmuggelte Zigaretten und Feuerzeuge. Die Via Roma war hell erleuchtet, viele Grüppchen waren unterwegs, niemand allein, ein eindeutiges Hindernis für abendliche Spaziergänge, wie
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