Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
Marlen sie gern und oft unternahm. Sie kannte es bereits, das Gehupe, die herunter gekurbelten Fenster, aus denen unzweideutige Einladungen ergingen, und hatte nicht nur ihren Schritt darauf eingestellt. Das war kein Schlendern mehr, kein gemächliches Schauen und Flanieren, eher ein Eilen, ein zielstrebiges Gehaste dem Ziel entgegen, das nach außen cool und sicher wirken mußte. Schritt vor Schritt, ciao bella , im Augenwinkel drei schwarzhaarige Jünglinge in irgendeinem Fiat – sie überquerte die Via Chiaia und den riesigen halbrunden Parkplatz gegenüber dem Palazzo Reale mit seinen steinernen Wächtern. Ja bist du denn verrückt? das macht hier niemand, nimm dir ein Taxi, du provozierst doch geradezu, sagte man ihr immer wieder. Nur Livia verstand, was Marlen meinte, wenn sie darauf beharrte, allein auszugehen. »Ich lasse mich nicht einsperren!« Sie wußte, was sie tat und wohin sie ging: zur Chiatamone-Bar in der Via Chiatamone. Es war brechend voll. Genau das Richtige. Fusion Jazz mit Musikern aus Neapel und Salerno. Marlen holte sich an der Bar ein Bier und drängelte sich die schmalen Stufen hinunter in das Kellergewölbe. Jemand tippte ihr auf die Schulter. Es war Gino, der Schuhdesigner, in der Pause redeten sie miteinander. Marlen sah sich seine letzten Entwürfe an, die er wie immer zerknautscht in der Jackentasche trug, um sie live beim Damenpublikum auszutesten. Ein Schuh gefiel ihr, sie hätte ihn sofort gekauft, doch Gino sagte, da müsse sie mindestens ein Jahr warten, bis er in die Läden komme, falls das Modell überhaupt in die nächste Kollektion aufgenommen werde.
Gino bot an, sie nach Hause zu bringen. Sie wollte an der Via Roma aussteigen, doch er bestand darauf, sie bis vor die Haustür zu chauffieren – eine Frau nachts allein unterwegs in den Quartieri Spagnoli, undenkbar. Sie winkte, die Rücklichter von Ginos Wagen verschwanden um die Ecke, sie schloß das Tor auf. Sie sah nicht, wie sich ein Schatten aus dem Hauseingang schräg gegenüber löste und sich ihr von hinten näherte. Als sie das Tor von innen zuschieben wollte, spürte sie Widerstand, eine dunkle Gestalt schlüpfte hinter ihr in den Garten, drückte die Tür zu. Sie war viel zu überrascht, um zu schreien oder schnell in Richtung Haus zu laufen. Ihr blieb fast das Herz stehen, nein, es raste, rannte an ihrer statt davon.
»Du wolltest mich sprechen?« Die Stimme klang vertraut. Sie bekam kein Wort hervor, starrte ins Dunkel.
»Ich bin’s«, sagte die Stimme freundlich. »Salvatore.«
35
Sie lagen auf dem Bett, ihre großen Zehen berührten sich. Salvatore schlief. Marlen war wach, betrachtete die Umrisse seines Körpers unter dem Laken. Seine Hand lag quer über ihrem Bauch. Sie nahm die Hand herunter, legte sie behutsam auf seinen Bauch, rückte ein wenig ab und setzte sich auf, die Knie an die Brust gezogen, den Kopf schräggelegt.
Es war besser, Dinge nicht zu vermischen. Zu viele Fragen wirbelten in ihrem Kopf umher: Warum war er ab gehauen, nachdem sie den toten Umberto in dieser unterirdischen Höhle entdeckt hatten? Was wußte er über Umbertos Tod? Warum hielt er sich seither versteckt? Vor wem versteckte er sich? Wußte er etwas über die zweifelhafte Herkunft der Kunstobjekte in Umbertos Haus? Ahnte oder wußte er, wer der Mörder sein könnte? Und Giorgios Vermutungen über die Drogengeschäfte? Hatte er Angst? Hatte er ein Alibi?
Es war absurd. Die meisten Fragen konnte sie ihm nicht stellen. Wegen dieser Nacht, weil sie sich kaum kannten, weil er ihr nicht vertrauen würde, weil er sein Leben lebte und sie ihrs und sie sich ein drittes Mal begegnet waren, vermutlich war es das letzte Mal, auch wenn sie lieber nicht daran denken wollte.
Sie hatten kaum etwas gesprochen. Als Marlen erkannte, wer hinter ihr durch die Tür in den dunklen Garten geschlüpft war und so dicht vor ihr stand, daß sie seinen Atem in den Haaren spürte, war es keine Frage gewesen, was geschehen würde – und zwar diesmal an Ort und Stelle und in keiner Jugendhöhle. Danach waren sie ins Haus gegangen, hatten noch immer kaum gesprochen, dafür dem körperlichen Verlangen Genugtuung verschafft, sich aneinander gerieben, gestoßen, umeinander gerollt, das Raumgefühl verloren, jeden Versuch der Orientierung fahrengelassen, sich einander hingegeben, bis er eingeschlafen war, während sie, glücklich und erschöpft, zunächst stets hellwach war.
Er würde keine Antworten geben, dachte sie. Oder andere als die, die ihr recht
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