Der Tote vom Kliff
wir alle Juden.«
»Nicht unbedingt«, erwiderte Lüder.
»Die Italiener, die damals wohl Römer hießen, nicht.
Die tun bis heute so, als wären sie schon vor Christi Geburt katholisch
gewesen.«
»Ist das bei euch Münsteranern anders?«
»Ich bin kein Münsteraner, sondern nur Münsterländer.
Ich komme aus Nottuln.«
»Die Gruenzweigs waren eine angesehene Warschauer
Handels- und Bankiersdynastie. Ein kluger Kopf in der Familie muss die
Entwicklung vorausgeahnt haben, und so ist ein Großteil vor 1938 nach Amerika
ausgewandert.«
»Also keine Opfer des Pogroms?«
»Die haben wohl fast alle jüdischen Familien zu
beklagen. So wird es auch bei den Gruenzweigs Angehörige gegeben haben, die aus
welchem Grund auch immer nicht mit ausgewandert sind. Jedenfalls haben
Großvater und Vater von Lew Gruenzweig in Amerika weitergemacht, wo sie in
Polen aufgehört haben. Auch dort war ihnen durch Fleiß und Geschick Erfolg
beschieden.«
»Also wurde Lew Gruenzweig schon als Baby mit einem
goldenen Löffel gefüttert?«
»Wenn du es so formulieren möchtest. Jedenfalls hat
sich der Junge nicht auf den Lorbeeren seiner Vorfahren ausgeruht. Die
Vorgängergeneration war schon nicht zimperlich. Als Bankiers haben die gern
Geld an Unternehmer verliehen, bei denen abzusehen war, dass denen die
Rückzahlung schwerfällt. So sind viele im Kern gesunde Unternehmen in das
Familienvermögen gefallen. Und Lew Gruenzweig hat das System im Laufe der Jahre
perfektioniert. Er kauft rund um den Globus große Unternehmen der
Schlüsselindustrien oder systemsteuernde Unternehmen wie Banken und
Versicherungen, aber auch Logistik und Medien interessieren ihn. Entweder nutzt
er sie für seine Zwecke, um sein weit verzweigtes Netz zu komplettieren, da
diese Unternehmen wiederum als Käufer auftreten, oder er schlachtet sie aus.«
»Und wie funktioniert das?«
»Die Substanz der aufgekauften Unternehmen wie
Grundstücke, Maschinen und Know-how werden unter Marktwert an andere
Gruenzweig-Unternehmen verkauft. Dann nimmt das zu einer wertlosen Hülle
gewordene ausgesaugte Unternehmen einen Kredit auf und kauft damit den nächsten
Betrieb, der auf die gleiche Weise ausgeschlachtet wird.«
»Moment«, unterbrach Große Jäger. »Das bedeutet, dass
sich das System von selbst finanziert. Und Gruenzweig mehrt sein Vermögen durch
die billig erworbenen Werte der ausgesaugten Betriebe.«
»Richtig. Und die sind jetzt wertlos und werden
eingestampft.«
»Einschließlich der Menschen, die dort über Jahrzehnte
gearbeitet haben und ihren Lebensunterhalt verdienten.« Große Jäger schwieg
eine Weile. »Als Polizist darf ich das weder sagen noch denken, was mir jetzt
in den Sinn kommt.«
»Dass es Leute gibt, die diesem Treiben ein Ende
bereiten wollen, sei es, dass sie selbst Opfer waren, oder aus ideologischen
Gründen«, sagte Lüder. Er sah Große Jäger von der Seite an. »Und du kannst dich
nicht von dem Gedanken frei machen, dass du dafür ein wenig Verständnis hegen
würdest.«
»Hmh«, war die ganze Antwort des Oberkommissars.
Lüder erinnerte sich an die Reaktion Thorolfs am
familiären Frühstückstisch, als der Vierzehnjährige bei der Erörterung des
Sylter Mordes von einem Ausbeuter sprach, von Ratten, die rund um den Globus
ersäuft werden müssten. Sicher war das jugendlicher Übereifer gewesen, aber es
war nicht auszuschließen, dass auch nüchtern Denkende so dachten.
In Westerland dauerte es eine Weile, bis sich der Pulk
desorientierter Autofahrer aufgelöst hatte.
»Das ist wie an der Rolltreppe«, murrte Große Jäger.
»Da wird unentwegt ein Strom von Leuten nachgebaggert, die keine Chance zum
Stehenbleiben haben und am Ende der Rolltreppe auf jenes Knäuel treffen, das
dort verharrt und sich in aller Ruhe zu orientieren sucht. Wohin fahren wir
zuerst?«
»Wir müssen herausfinden, zu wem Hubert Fixemer
Kontakt auf Sylt hatte. Deshalb würde ich gern mit Vater und Sohn Hundegger
sprechen. Außerdem soll noch der zweite Betriebrat aus dem Ruhrgebiet auf Sylt
sein. Lothar Balzkowski. Mit dem wollte sich Fixemer treffen. Wer sagt uns,
dass der mutmaßliche Mörder die Tat allein ausgeführt hat?«
»Die beiden aus Neumünster machten einen sehr jovialen
Eindruck«, ergänzte Große Jäger. »Aber der Geschäftsführer Hartwig und der
zweite Betriebsrat Knudsen stehen auch auf der Straße, wenn Noskemeier in
Neumünster die Pforten schließt.«
Lüder klopfte mit dem Zeigefinger auf das Lenkrad.
»Außerdem wäre da noch
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