Der Tote vom Kliff
Ȁgir
ist in der nordischen Mythologie der Name des ›Riesen der See‹, der einem
Meeresgott gleichkommt. Er ist aber gleichzeitig auch der ›Riese des Bieres‹.«
Große Jäger lachte. »Dann verstehe ich, weshalb die
Segler so trinkfest sind.« Er wies auf ein Boot.
»Das ist eine Ketsch«, erklärte Lüder, und als er
Große Jägers ratloses Gesicht sah, ergänzte er: »Das Boot hat zwei Masten, den
vorderen Großmast und den hinteren kleineren Besanmast.« Sie waren vor der
»Ägir« stehen geblieben. Das Schiff machte einen verlassenen Eindruck.
Große Jäger griff zum Handy. »Hier dürfte es nur eine
überschaubare Anzahl Taxen geben. Da sollten wir den Fahrer zügig ausfindig
machen.«
Er rief die Auskunft an und ließ sich mit dem Taxiruf
Sylt verbinden. Dort fragte er nach, ob vor kurzem ein Fahrzeug einen Gast am
Hörnumer Hafen abgeholt habe.
Wenig später rief die Taxizentrale zurück.
»Ich habe mit dem Fahrer gesprochen. Er hat einen
älteren Mann mit Koffer in Hörnum aufgenommen und nach Westerland zum Bahnhof
gefahren.«
»Dann fragen wir da nach«, beschloss Lüder und
steuerte den Inselbahnhof an.
Das Bahngebäude hatte sich den Charme vergangener
Jahre bewahrt. Für den Humor der Insulaner sprachen auch die giftgrünen
Laternenmasten, die den Fußweg zum Eingang säumten und schief montiert waren,
als hätten sie sich einem Sturm beugen müssen.
Das Innere des Bahnhofs wirkte düster. Dennoch fand
Lüder es schön, dass man erfolgreich allen Versuchen einer seelenlosen
Modernisierung getrotzt hatte und der Pseudo-Jugendstil erhalten geblieben war.
Sogar der Zugang zum modern gestalteten Reisezentrum in der rechten hinteren
Ecke passte.
Der Bahnmitarbeiter konnte sich an Hundegger erinnern.
»Der war hier. Er hat eine Karte erster Klasse für den Intercity gelöst.«
»Wissen Sie noch, wohin?«, fragte Lüder.
»Klar. Hamburg.«
Sie bedankten sich und kehrten zum Bahnhofsvorplatz
zurück.
»Wie gut, dass es noch Bahnhöfe gibt, wo Menschen die
Fahrkarten verkaufen und man nicht auf Mehlwurms Beklopptenklavier angewiesen
ist«, sagte Große Jäger.
Lüder runzelte die Stirn. »Auf was?«
»Die Fahrkartenautomaten. Da drückt man auf die
Glasscheibe, und im besten Fall passiert nichts. Oder die Software springt
irgendwohin und bricht ab, kurz bevor man am Ziel seiner Eingabe zu sein
scheint. Dabei wird die wichtigste Frage für Bahnkunden gar nicht gestellt.«
»Und welche wäre das?«
»Ob man im Raucher sitzen möchte«, sagte der
Oberkommissar und griente dabei. Dann überlegte er laut: »Was sucht Hundegger
in Hamburg?«
»Die Antwort bekommen wir nur, wenn wir ihn fragen.«
Sie wurden durch das Klingeln von Große Jägers Handy unterbrochen. Lüder bekam
mit, dass Hauptkommissar Paulsen von der Westerländer Kripo anrief.
»Das ist ja großartig«, freute sich Große Jäger und
erklärte, nachdem er das Gespräch beendete hatte: »Wir wissen, wem das
Hermelincape gehört.«
»Bist du jetzt enttäuscht? Nun kannst du es dir doch
nicht über deine Lederweste hängen.«
»Das ist gut so«, erwiderte Große Jäger. »Mir ist
eingefallen, dass ich Probleme mit den Waden bekomme, wenn ich in den zum Cape
passenden Pumps über die Kurpromenade gewackelt wäre. Es taucht ein neuer Name
auf: Katja von Mühl.«
» Die von Mühl?«, fragte Lüder erstaunt.
»Das weiß ich nicht. Die Dame ist heute auf der
Westerländer Dienststelle vorstellig geworden und wollte ihr Hermelincape
abholen. Sie soll dort einen mittelschweren Krach produziert haben, weil man es
ihr nicht ausgehändigt hat.«
»Theaterdonner«, warf Lüder ein. »Dabei spielt die
nicht mal auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Katja von Mühl ist doch eine
Fernsehschauspielerin. Der statten wir jetzt einen Besuch ab. Moment.« Er
wählte seinen heimischen Anschluss an.
»Gibt’s die nächste Leiche?«, fragte Jonas, der das
Telefon abgenommen hatte.
»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nicht so
reden sollst? Es geht um Menschenleben.«
»Es wäre doch blöd, wenn es keine Leichen mehr geben
würde«, erwiderte Jonas mit kindlich-vergnügter Stimme. »Dann wärst du
arbeitslos, und wir hätten kein Geld mehr.«
»Beamte verlieren ihren Job nicht«, sagte Lüder. »Und
Geldsorgen haben wir auch keine.« Zumindest berichte ich den Kindern nichts von
unserem derzeitigen Problem mit dem Konto, setzte er den Gedanken im Stillen
fort.
»Thorolf hat auch gesagt, dass man die Geldgeier alle
abschlachten
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