Der Tote vom Kliff
Auseinandersetzung am
Frühstückstisch erschienen. Entsprechend wortkarg war sein Auftreten, und es
bedurfte keiner besonderen Provokation seiner Schwestern, um eine heftige
Nonsensdiskussion vom Zaun zu brechen. Nachdem auch Jonas sich mit seinen
Kommentaren eingeschaltet hatte, musste Lüder massiv einschreiten, um das
Geplänkel zu beenden. Das hatte aber zur Folge, dass sich die drei Kinder einig
waren, Lüder sei ein Despot.
»Was ist ein Despot?«, fragte Sinje neugierig.
»So was wie dein Vater«, entgegnete Thorolf unwirsch.
»Papi, bist du ein Despot?«, fragte Sinje mit großen
Augen.
Lüder lachte. »Wenn der Familienrat das mit Mehrheit
beschlossen hat, muss es wohl so sein. Das hat der allwissende Thorolf
bestimmt.«
»Haha«, lachte Jonas schallend auf. »Der und clever.
Wisst ihr, dass der seine letzte Mathearbeit verhauen hat?«
»Stimmt nicht, du Blödmatz.« Der Große war sichtlich
erzürnt.
»’türlich. Ich hab’s doch in deinem Matheheft
gesehen.«
Thorolf wollte sich auf Jonas stürzen. »Du hast
überhaupt nichts an meinen Sachen zu suchen.«
Vorsichtshalber duckte sich Jonas und lugte zwischen
den erhobenen Armen hervor. »Frag mal Lüder. Der sagt auch immer, dass ein
guter Polizist seine Augen überall haben muss.«
Lüder fiel es schwer, bei solchen Argumenten ernst zu
bleiben. »Der Polizist in mir sagt, dass letztlich doch alles irgendwann
herauskommt. Das ist an deine Adresse gerichtet, Thorolf. Und der Jurist,
Jonas, erklärt dir unmissverständlich, dass illegal beschafftes Beweismaterial
keine Verwendung findet. Also sind wir quitt.«
Margit lachte. »Mit diesem Spruch hat sich Lüder die
Berechtigung erworben, dass wir ihn künftig nur noch Salomon nennen.«
»Was ist ein Salomon?«, wollte Sinje wissen.
Lüder kniff ihr sanft in die Nase. »Das erklärt dir
Mami, wenn ich aus dem Haus bin.«
Er verabschiedete sich von seiner Familie und machte
sich auf den Weg nach Husum, um Große Jäger abzuholen und mit dem Oberkommissar
gemeinsam Richtung Sylt zu fahren.
»Baller – Bumm – Brumm«, begrüßte ihn Große Jäger
anstatt des üblichen »Moin«.
»Bitte?«, fragte Lüder.
Der Oberkommissar grinste. »Das ist die positive
Nachricht.«
»Ich habe dich nicht verstanden.«
»Der Gruenzweig-Mord ist nicht mehr die oberste
Schlagzeile in der Zeitung. Stattdessen steht dort: Baller – Bumm – Brumm. Ich
lüge nicht. ›Baller« ist eine Aufforderung an Michael Ballack, möglichst viele
Tore zu schießen, ›Bumm‹ soll die Leser auf den Boxkampf von Klitschko
einstimmen, und ›Brumm‹ leitet einen kurzen Bericht zum Finale der Formel 1
ein.«
»Das ist wirklich positiv. Ein Hoch dem Baller-Bumm-Brumm-Journalismus.
Mich interessiert viel mehr, was der Täter mit der Art der Tatausführung
dokumentieren wollte. Der edle Champagner, als Krause um den Hals eines
Milliardärs drapiert, weist Züge eines Ritualmordes auf. Brauchen wir zur
Deutung einen Kriminalpsychologen?«
Große Jäger grunzte verächtlich. »Profiler sind in
einschlägigen Krimisendungen ›in‹. Wir sollten das lieber allein mit logischem
Menschenverstand klären. Und mit meinem Bauchgefühl.« Er strich sich mit beiden
Händen über seinen Schmerbauch. »Davon habe ich schließlich eine Menge.«
»Die Tatausführung war kein Zufall, sondern geplant.
Schließlich hat sich der Mörder die Segelleine zuvor besorgt. Er wusste
folglich, wie er vorgehen wollte. Wenn wir nur eine Idee hätten, was den Täter
zu dieser symbolischen Handlung bewog. Wollte er damit ein Zeichen setzen?
Weltweite Aufmerksamkeit erregen?«
»In solchen Fällen hätte ich ein Bekennerschreiben
erwartet«, gab Große Jäger zu bedenken. »Oder zumindest eine später über die
Presse an die Öffentlichkeit lancierte Nachricht. Mich wundert, dass nichts
dergleichen geschehen ist. Auch hält sich das Jubilieren einschlägiger Kreise
in Grenzen. Ich habe von keiner ausufernden Freudenveranstaltung über den
Abgesang der Heuschrecke gehört.«
»Es hätte uns nicht verwundert, wenn linksorientierte
Gruppierungen auf die Straße gegangen wären und im Überschwang den Tod weiterer
Wirtschaftsbosse gefordert hätten. Wenn man publiziert, dass allein die Kosten
für das Tatwerkzeug, die Champagnerflaschen, den monatlichen Unterhalt einer
Hartz- IV -Familie übersteigt,
schürt das ein Feuer, das ohnehin latent schwelt.«
»Das haben Sie jetzt aber elegant formuliert«, sagte
Große Jäger. »Wenn Demagogen auf dieses
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