Der Tote vom Kliff
Anlage
scharf zu schalten. Dabei ist es sonst nicht ihre Art gewesen. Sie war in
dieser Hinsicht immer sehr zuverlässig.«
Meyerlinck nickte bestätigend.
Dann verließ Lüder das Haus. Vom Auto aus rief er
Paulsen an und bat den Hauptkommissar, die Aussagen der beiden Angestellten zu
protokollieren, Frau Merckel die Sprachmuster der Dialekte vorzuspielen und das
Alibi Meyerlincks zu überprüfen, sobald dieser die Aufstellung vorgelegt hatte.
»Hier gibt es auch Neuigkeiten«, sagte der Leiter der
Sylter Kripo. »Wir haben die mutmaßliche Tatwaffe.«
»Wo haben Sie die gefunden?«
»Im Urwald.«
»Hätte mir unser Kollege Große Jäger so geantwortet,
wäre ich nicht überrascht gewesen«, sagte Lüder.
Er hörte, wie Paulsen am anderen Ende der Leitung
herzhaft lachte. »Den gibt es wirklich, obwohl selbst viele Einheimische nicht
von seiner Existenz wissen. Er liegt in List und ist ein kleines, rundum
bebautes Areal, in dem man die Natur ohne Eingriff von Menschenhand sich
entwickeln lässt. Wenn Sie List erreichen, fahren Sie am Hafen und an der alten
Tonnenhalle vorbei. Das ist das touristische Zentrum, das kennt jeder. Folgen
Sie der Straße bis zur Kurverwaltung. Dann zweite rechts. Achtung. Es ist weder
ausgeschildert noch leicht zu finden. In dieser Nebenstraße gibt es eine
Kneipe. Direkt daneben führt ein schmaler Durchlass zum Fundort.«
»Ich bin unterwegs«, sagte Lüder und erreichte nach
kurzer Zeit den Teil Lists, in den sich selten Touristen verirren. Vor den rot
geklinkerten Doppelhäusern, die in endloser Reihe die Straßen säumten, standen
überwiegend ältere Bewohner des Ortes, die den Tag mit Müßiggang bestritten
oder zu einem Schwätzchen mit den Nachbarn nutzten. Paulsen hatte recht. Ohne
die Beschreibung des einheimischen Polizisten wäre Lüder vorbeigefahren.
Hinter dem Durchlass öffnete sich ein kleiner Platz,
der von tiefen Pfützen überzogen war. Ein paar Fahrzeuge waren dort abgestellt,
als Erstes der VW LT der Flensburger Kriminaltechniker.
Lüder parkte den BMW daneben und
folgte einem schmalen Pfad, der ins Innere des »Urwalds« führte. An die Wand
eines verkommenen Gebäudes hatte jemand »Fuck you« und »Robert + Sabrina«
gesprayt. Ein paar Meter weiter in dem zugewucherten Areal sah Lüder einen Mitarbeiter
Klaus Jürgensens.
»Hallo«, grüßte er den Kriminaltechniker.
Der junge Beamte sah auf. »Moin. Zwei Kinder haben im
Gebüsch hinter dieser Bank die Waffe gefunden.« Er wies auf eine
Makarow-Pistole, deren Konturen sich in einer Papiertüte abzeichneten, die auf
der Bank lag. »Die Spurenlage ist nicht sehr ergiebig. Trotz des matschigen
Bodens gibt es keine verwertbaren Fußabdrücke. Zeugen übrigens auch nicht. Ich
habe an der Waffe gerochen. Damit wurde eindeutig vor Kurzem geschossen. Es gab
auch Fingerabdrücke. Mehr kann ich nicht sagen.«
»Das Magazin?«, fragte Lüder.
»Nicht ganz voll«, erwiderte der Kriminaltechniker.
»Es fehlen aber mehr als zwei Patronen. Genau vier.«
»Der Täter hat zwei Schuss auf Dr. Laipple abgegeben.
Wo sind die beiden anderen?«
Der Beamte der Spurensicherung zuckte mit den
Schultern. »Hier habe ich keine gefunden. Und am Tatort waren auch nur zwei.
Aber die Frage müssen andere beantworten. Ich weiß es nicht.«
Lüder sah sich um. »Es sieht nicht so aus, als würden
viele Menschen durch diese Botanik schlendern.«
»Ich bin hier auch fremd«, wich der Beamte aus. »Aber
Sie mögen recht haben.«
»Wir haben Glück gehabt, dass die Waffe so schnell
gefunden wurde. Da dieser sogenannte Urwald schwer zu finden ist, dürfte es
kaum ein Fremder gewesen sein, der sich an dieser Stelle der Tatwaffe entledigt
hat«, dachte Lüder laut nach. »Oder jemand, dem List vertraut ist, der schon
oft hier Urlaub gemacht und dabei auch abseits ausgetretener Touristenpfade das
Terrain erkundet hat.«
»Möglich«, antwortete der Kriminaltechniker einsilbig
und ließ sich nicht von seiner Arbeit ablenken.
Mittlerweile war es später Nachmittag geworden. Lüder
fuhr nach Westerland zu dem Gebäude, in dem die Polizeidienststellen
untergebracht waren. Er musste über die in Nordfriesland übliche zweisprachige
Ausschilderung lächeln, die an Orts- und Bahnhofsschildern anzutreffen war und
auch vor dem Amtsgebäude der Polizei nicht haltmachte. In Hochdeutsch und
Friesisch stand dort »Polizei – Politsai«. Noch schwieriger war die schon in
der hochdeutschen Amtssprache komplizierte Übersetzung
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