Der Tote vom Maschsee
England erinnert, in dem der
Mob vor einem Haus stand und Komm raus, du Kinderschänder! skandierte. Der Mann hatte nach VerbüÃung einer Haftstrafe zehn Jahre lang
völlig unauffällig gelebt, ohne sich etwas zuschulden kommen zu lassen. Völxen
verspürt den Drang, ihr entgegenzuhalten, dass solche Listen erfahrungsgemäÃ
Bürgerwehrinstinkte wecken und zur Lynchjustiz anstiften, dass die Ãberwachung
der Bürger durch den Staat, wie sie in England praktiziert wird, für seine
Begriffe schon gruselige Formen angenommen hat, und nicht abzusehen ist, wohin
das führt. Und dass man eine Gesellschaft mit elektronischen Gerätschaften
nicht vor perversen Sexualtrieben einzelner Mitglieder schützen kann. Doch
Irene Dilling ist nun wirklich die Letzte, mit der er über dieses Thema
diskutieren möchte. Völxen wird in diesem Moment klar, dass er diese Frau,
obwohl sie ihm leid tut, nicht mag. Diese Erkenntnis wiederum bereitet ihm noch
mehr Unbehagen.
Offenbar sieht sie ihm an, dass er ihre Meinung nicht teilt, und
vermutlich findet sie, dass gerade ihm dies nicht zusteht. Ihre Miene verhärtet
sich, und ihr Blick verrät Bitterkeit, als sie sagt: »Jeder, der sich an einem
Kind vergreift oder Frauen vergewaltigt, sollte von Vornherein wissen, was auf
ihn zukommt, wenn man ihn erwischt. Wenn â¦Â«, fügt sie hinzu.
Völxen versenkt sich in den Anblick der Tischplatte. Das Einzige,
was man damals von der vierzehnjährigen Karoline gefunden hat, war ihr Fahrrad,
zwei Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt am Misburger Hafen, der an einem
Seitenarm des Mittellandkanals liegt. Völxen befiehlt sich, sich
zusammenzureiÃen. Sein Schuldgefühl, als Mitglied der MoKo Karoline versagt zu
haben, darf keinen Einfluss auf die heutige Ermittlung nehmen.
»Es wird so kommen wie mit dem Rauchverbot«, prophezeit Irene
Dilling.
»Dem Rauchverbot?«, fragt Völxen verwirrt.
»Ja. Das hat auch vor Jahren in Amerika seinen Anfang genommen, und
jetzt sind wir endlich ebenfalls so weit, dieses Ãbel einzudämmen. Wir Europäer
brauchen halt immer etwas länger, bis wir die Zeichen der Zeit erkennen und
handeln.«
Völxen hat genug, er will die Befragung hinter sich bringen. »Ist
Ihnen irgendwas oder irgendwer aufgefallen an dem Abend?«
»Nein. Und wie gesagt, hinterher sind wir ja gleich weg.«
»Wir?«
»Ich war mit zwei Frauen aus unserer Gruppe da. Die habe ich nach
Hause gefahren.«
»Die Namen?«
»Die kenne ich nicht. Zumindest nicht die echten.«
»Wie bitte?«
»Wir verlangen von niemandem, seinen richtigen Namen zu nennen. Wir
kommunizieren hauptsächlich über das Internet, da sind echte Namen nicht
notwendig. AuÃerdem möchte ich nicht, dass Sie sie aufsuchen und unter
Mordverdacht stellen, so wie mich.«
»Aber irgendwie müssen Sie sich doch gegenseitig ansprechen.«
»Eine nennt sich Ronja, die andere Claire.«
»Sie wissen noch, wo Sie die beiden hingefahren haben?«
»Natürlich. Claire wohnt in der Südstadt â sie wollte jedenfalls
dort aussteigen â und die andere Frau im Roderbruch.«
Der Kommissar rechnet: Der Vortrag war um Viertel nach zehn zu Ende.
Laut Pascal, dem Barmann, sind Offermann und die Buchhändlerin gegen elf in die
Bar gekommen, und Offermann ist etwa um Viertel vor zwölf gegangen. Eineinhalb
Stunden. Zeit genug, um die Damen nach Hause zu fahren und noch einmal
zurückzukommen. Irene Dilling hat kein Alibi. »Wie fanden Ihre Begleiterinnen
denn Offermanns Vortrag?«
Sie zuckt die Achseln. »Ach, ich weià nicht. Sie waren beide recht
schweigsam.«
»Waren das auch Mütter von â¦Â«
»Ich weià nicht, was die beiden zu unserer Gruppe geführt hat.
Manche verraten nie, weshalb sie sich Pro victim anschlieÃen. Wir drängen niemanden zum Reden. Manche wollen einfach nur das
Gefühl haben, etwas zu tun, sie wollen ausbrechen aus der Rolle des
ohnmächtigen Opfers. Ich weiÃ, dass man von uns erwartet, dass wir stumm leiden
und die Ãffentlichkeit gefälligst nicht mit unserem Schmerz behelligen.
Zumindest nicht länger, als so ein Verbrechen in den Schlagzeilen steht. Aber
mir hat es sehr geholfen, aktiv zu werden, und anderen geht es wohl genauso.«
»Und welche Aktivitäten beschäftigen Ihre Gruppe im Augenblick?«
»Zurzeit behalten wir den Fall des Herrn S.
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