Der Tote vom Maschsee
dem Feld zurück und fuhr davon. Die
junge Frau hatte Glück, dass sie nicht unter den Mähdrescher geriet. Sie konnte
sich die Autonummer merken, und zwei Tage später wurde der Fahrzeughalter
Michael Strauch festgenommen und von seinem Opfer identifiziert. Er gab an,
Frau P. sei freiwillig mit zu dem Kornfeld gefahren und habe sowohl die
Fesselung als auch den Verkehr gewollt. Dann habe sie plötzlich einen
Rückzieher gemacht, und danach sei alles »auÃer Kontrolle geraten«. Beigelegt ist das ärztliche Gutachten, in dem die Verletzungen von Silvia P.
aufgeführt sind: diverse Hämatome, zwei gebrochene Rippen, Würgemale am Hals,
Analfissur, Brandwunden vom Zigarettenanzünder.
Jule schluckt. Bestimmt sind Silvia P. dabei erneute Demütigungen
nicht erspart geblieben, nach dem Motto: Selbst schuld â ein anständiges Mädchen
steigt nicht zu einem Kerl ins Auto, den sie kaum kennt. Wo sie jetzt wohl
lebt? Und wie?
Im November 1989 wurde Michael Strauch aus der Jugendhaftanstalt Hameln vorzeitig
entlassen. Es folgt eine Aufzählung wechselnder Jobs und Wohnungen in
der Region Hannover. Strauch hat nirgends lange gearbeitet und ist etwa alle
halbe Jahre umgezogen.
Birte L., eine sechzehnjährige Schülerin, wurde
im August 1992 tot auf dem Gleis der Bahnstrecke HannoverâLaatzen gefunden,
nachdem sie zwei Wochen lang als vermisst gegolten hatte. Ein Trupp
Gleisarbeiter entdeckte die Leiche, ehe ein Zug sie überrollen konnte. Der
Körper des Mädchens wies Spuren von Misshandlungen auf. (Siehe
Obduktionsbericht) Einige Verletzungen waren schon mehrere Tage alt, einige
ganz frisch. Sollte wohl nach Selbstmord aussehen, spekuliert Jule. Als
Todesursache nennt der Obduktionsbericht Ersticken.
Jule schlieÃt die Augen. Zwei Wochen. Vierzehn Tage Martyrium. Sie
holt tief Atem, dann liest sie die beiliegende Anklageschrift der Staatsanwaltschaft.
Strauch hatte das Mädchen vermutlich im Keller seiner Werkstatt festgehalten.
Als die Polizei dort eindrang, war der Keller gröÃtenteils ausgebrannt. Am
Abend zuvor hatte es dort ein Feuer gegeben. Strauch gab gegenüber der
Feuerwehr und der Polizei an, er habe mit Terpentin hantiert und dabei
unbedacht eine brennende Zigarette fallen lassen. Spezialisten der
Ermittlungsbehörden fanden jedoch Spuren von Brandbeschleuniger an mehreren
Stellen des Kellers. Strauch wurde überführt durch Spermaspuren an der Leiche
dank des für die damalige Zeit noch recht neuen Verfahrens des DNA-Abgleichs.
Im Dezember 1992
wurde Strauch wegen sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen,
Freiheitsberaubung und Totschlags zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Den Mord
an dem Mädchen konnte ihm das Gericht nicht nachweisen.
Zum Punkt Haftverlauf hat Offermann
vermerkt: keine UnregelmäÃigkeiten, insbesondere keine
Gewalttaten oder Drogenmissbrauch. Beim Personal wegen diverser Rechthabereien
nicht beliebt. Hat mit Erfolg an einem Anti-Aggressionstraining teilgenommen.
Unter Bezugspersonen notierte der
Psychiater: Die Mutter brach nach der zweiten Verurteilung
den Kontakt ab, der Vater hat die Familie bereits 1978
verlassen und ist 1997 verstorben. Vor seiner zweiten Inhaftierung 1992
hatte Strauch eine Freundin, Sonja D., mit der er zusammenlebte. Die Beziehung
war nicht harmonisch, Strauch fühlte sich von Sonja oft gegängelt. Während der
zweiten Strafhaft Brieffreundschaften mit wechselnden Frauen, die ihn auch
zeitweilig besuchten. Zurzeit gibt es eine Frau, Irma Kissinger, Verkäuferin,
die ihn besucht. Wohnmöglichkeit nach der Haft?
Bis jetzt ist es Jule nicht gelungen, aus den Unterlagen die
wichtige Frage zu klären, wie hoch oder niedrig Offermann die Gefährlichkeit
dieses Mannes einschätzte, wie also sein Gutachten ausgefallen wäre. Da war der
Lebenslauf des Mannes: seine Schulen, seine Arbeitsstätten, seine Wohnorte.
Unter Zielvorstellung stand: S.
wollte immer ein Unternehmer werden, scheiterte aber an den Realitäten.
Einige der Notizen kann sie absolut nicht entschlüsseln. Und kein
Internetanschluss, verdammt noch mal! Es macht sie rasend, die fremdartigen
Begriffe und Abkürzungen nicht sofort klären zu können.
Entnervt lässt sie die Blätter sinken und reibt sich die Augen. Sie
ist müde und aufgedreht zugleich. Und hungrig. Zehn Uhr. Noch viel zu früh zum
Schlafen. Hoffentlich geht es heute Nacht etwas ruhiger in diesem Haus
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