Der Tote vom Maschsee
schweift ab und bleibt wie immer an dem Bild ihres
Bruders hängen, dem einzigen Foto, das sich in diesem Raum befindet. Ein
Kleinkind von drei Jahren, das wohlgenährt auf einer Schaukel sitzt und wonnig
in die Kamera strahlt. Schon immer hatte Jule das Gefühl, dass es ihrer Mutter
lieber gewesen wäre, sie wäre an seiner Stelle mit vier Jahren an Hirnhautentzündung
gestorben. Einmal hat Jule ihr das während eines Streits vorgeworfen und dafür
postwendend eine Ohrfeige bekommen. Aber widersprochen hat Frau Wedekin ihrer
Tochter damals nicht.
»Und jetzt wohnt er also bei dir. Typisch. Er kann nämlich nicht
allein sein, er braucht immer eine Sklavin um sich herum.«
Da ist was dran, denkt Jule. Gut, gestern Abend hat er mit ihr bis
Mitternacht Möbel zusammengebaut, und er hat die Ikea-Rechnung bezahlt. Aber
wer hat heute Morgen das Frühstück gemacht? Und wer hat sich bedienen lassen
und nur genörgelt? Gibtâs keine Diätmargarine? Die Marmelade
hat Haare. Was ist denn das in dem Glas, Gehirne? â Was, grüne Tomaten? Wofür
sind die denn? Kannst du überhaupt kochen?
»â¦Â aber weiÃt du, was das Schlimmste an der Sache ist?«, fragt
Cordula Wedekin jetzt ihre Tochter, die pflichtschuldigst verneint.
»Das Gerede der Leute.«
»Wer hat denn was gesagt?«
»Natürlich reden sie nicht mit mir, sondern über mich, hinter meinem
Rücken. Ach, die Arme. Das kommt sicherlich davon, dass sie
dauernd unterwegs war, mit ihren Konzerten. «
»Woher willst du das wissen?«, fragt Jule müde.
»Ich merke es an der Art, wie sie mich ansehen â im Golf-Klub, im
Konzert, beim Bridge, überall. Ich kann mich nirgends mehr sehen lassen. Wenn
ich einen Raum betrete, dann verstummen alle. Sogar die alte Vettel von nebenan
betrachtet mich mit diesem ekelhaften, sensationslüsternen Mitleidsblick. Das
Ergebnis von all dem ist, dass ich mich schäme. Ich! Nicht er. Ihm wird man
alles nachsehen, die Kollegen werden ihm sogar klammheimlich auf die Schulter
klopfen. Mir dagegen wird man es nicht verzeihen, verlassen worden zu sein. Das
ist immer so. Es ist so ungerecht!«
Obwohl Jule die Antwort schon kennt, fragt sie dennoch: »Meinst du
nicht, dass du vielleicht ein bisschen übertreibst?«
»Nein«, sagt ihre Mutter gallenbitter. »Es ist, als hätte ich eine
Krankheit, als würde für alle Zeiten auf meiner Stirn geschrieben stehen: Verlassene Ehefrau . Man wird von mir nur noch als der Exfrau von Professor Wedekin reden, als hätte ich nie
eigenständig existiert. Am liebsten würde ich wegziehen. Vielleicht mache ich
das auch. Zumindest werde ich für eine Weile verreisen.«
»Das ist eine gute Idee«, findet Jule. Sie hat genug und steht auf.
»Ich muss wieder los.«
Ihre Mutter nickt stumm und schicksalsergeben. Sie hatte schon immer
einen gewissen Hang zum Pathetischen, denkt Jule, und nun suhlt sie sich
genüsslich in ihrem Leid. Jule ertappt sich dabei, wie auch sie beginnt,
Mitleid für ihre Mutter zu empfinden. Dabei ist ihr klar, dass es vom Mitleid
zur Verachtung nur ein kleiner Schritt ist.
»Ruf mich an, ja?«, sagt Jule zum Abschied. »Wenn ich dir irgendwie
helfen kann, sag Bescheid.«
Ihre Mutter nickt, tapfer lächelnd. »Erzähl ihm nichts von unserem
Gespräch, bitte. Sag ihm, mir geht es blendend.«
Völxen sitzt in seinem uralten, gestreiften Bademantel vor
dem Computer und ruft gerade seine E-Mails ab. Denninger hat einen Bericht von der
Ballistik geschickt. Demnach wurden zwei Schüsse aus etwa drei Metern
Entfernung abgegeben, und zwar von einer mittelgroÃen Person. Die Hülsen, die
gefunden wurden, deuten auf dieselbe Waffe, mit der Offermann erschossen wurde.
Dann gibt es noch eine Nachricht von Fiedler: Es wurden Sohlenprofile
sichergestellt, ein Sportschuh von bislang unbekannter Marke, SchuhgröÃe
zwischen neununddreiÃig und vierzig.
»Kommst du mit?«
Völxen schaut irritiert auf.
Sabine steht im Türrahmen, sie trägt ein meerblaues Sommerkleid, ihr
Haar ist hochgesteckt, sie hält eine in Goldpapier gewickelte Flasche im Arm.
»Wohin?«
»Zu Hanne Köpckes Geburtstag. Wir haben gestern darüber gesprochen.«
»Ach so, ja«, sagt Völxen, der sich beim besten Willen nicht daran
erinnern kann. »Was, jetzt soll ich da hin, um elf?«
»Es ist ein Brunch.«
» Brunch
Weitere Kostenlose Bücher