Der Tote vom Silbersee (German Edition)
den Ring zurück. Das Heulen erstarb erst nach dem dritten Schlag. Dem Geräusch des berstenden Schädels schenkte niemand besondere Aufmerksamkeit. Der Herr im Kaschmirmantel verzog verächtlich das Gesicht. Sein Handlanger war ein Nichts. Solche Typen waren Marionetten. Sie mussten nur genug Geld verdienen, und zwar für Dinge, die er befahl, dann konnte man sie gut in die Schranken weisen. Ja, Richard Ditzner tat alles, was er von ihm verlangte. Denn Rebellion gegen seine Entscheidungen tat weh. Das letzte Mal, als Richard nicht gehorcht hatte, musste sein fünfjähriger Sohn leider einen kleinen Unfall auf dem Spielplatz erleiden. Danach hatte Richard verstanden …
22
Lena holte sich die Nürnberger Nachrichten, die im Mercure immer auf dem Tischchen im Eingangsbereich für die Gäste auslagen. Alois brachte ihr ein Kännchen Kaffee auf ihr Zimmer, und sie machte es sich im Sessel vor dem Fenster gemütlich. Sie blätterte interessiert. Es war für sie als Bewohnerin eines kleinen Dorfes in der Schweiz beeindruckend, was das große Nürnberg an Kultur zu bieten hatte. Natürlich gab es auch Kulturveranstaltungen in ihrem Land, aber die Mannigfaltigkeit und Abwechslung allein hier in Nürnberg überraschten sie sehr. Vielleicht würde sie am Wochenende den Frühjahrsmarkt auf dem Hauptmarkt besuchen.
Plötzlich schnaufte sie auf. Diesen Menschen da auf dem Foto hatte sie doch schon gesehen! Der Bericht stand im Feuilleton in der Spalte Leute heute. Eine Dame, die anscheinend zur Nürnberger Prominenz zählte, war mit ihrem Hündchen am Dutzendteich spazieren gegangen. Die Dame wollte gerade am Silbersee vorbeigehen, als ein Rennradfahrer von hinten auftauchte. Das Hündchen erschrak und bellte ihn an. Worauf der Radfahrer auf den kleinen Hund zuhielt und ihn einfach überfuhr. Die geschockte Besitzerin berichtete, wie ihr heiß geliebtes Hündchen in ihren Armen sein Leben aushauchte. Ein Jugendlicher, der auf der Skaterbahn trainierte, hatte geistesgegenwärtig ein Foto des Rennradfahrers geschossen: Manfred Faustus, der Biologe!
»Ich kann es einfach nicht glauben!«, rief Lena. Dann griff sie zum Telefon. Die Kommissarin meldete sich sofort.
»Es ist Manfred Faustus. Er muss der Kopf der Bande sein«, sprudelte Lena hervor. Am anderen Ende der Leitung war es still. Dann erklang ein Seufzer.
»Wer soll was sein?« Es hörte sich an, als spräche sie mit einem störrischen Kind.
»Dieser Manfred Faustus, der Biologe, hat absichtlich einen kleinen Hund überfahren. Das steht in der Zeitung! Und wer so was tut, ist auch fähig, Kampfhunde aufeinander zu hetzen!«, schrie Lena ins Telefon.
»Frau Wälchli! Also wirklich. Merken Sie nicht, wie lächerlich das klingt?«
Lena verstummte, dann sagte sie: »Entschuldigung. Sie haben recht!« Warum dachte sie nie nach, ehe sie zur Tat schritt? Aber so leicht würde siedie Spur nicht aufgeben.
***
Er wartete im Café gegenüber der Uni auf den Mann, mit dem er sich am Telefon verabredet hatte. Er würde ihm zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen. Ob es dem Kerl wirklich gelungen war, eine neue Hunderasse zu züchten? Einen Hund, dem man sein Killerpotenzial äußerlich nicht ansah? Der nichts mit den Kampfhunden gemein hatte? Es war immer schwieriger geworden, Hunde, für die man eine Bewilligung brauchte, vor dem Auge der Öffentlichkeit zu verstecken. Diese neueHunderasse aber sah aus wie ein harmloser Familienhund. Er lächelte, als er an die Wetten dachte, die ihm diese neue Kreation einbringen würde. Zuerst aber wollte er den Russen treffen und sich eine Kostprobe dieser Killerhunde ansehen.
Er schlürfte genussvoll seinen Cappuccino. Eine Horde lärmender Studenten mit Büchern unter dem Arm drängte Richtung Uni. Es war schon etliche Zeit her, da war er selbst einer von ihnen gewesen. Ein ängstlicher Student, voller Panik, wenn er seinem strengen Vater in die Augen sehen musste. Er hatte immer Angst zu versagen. Selbst jetzt noch spürte er, wie ihm die Kälte den Rücken heraufkroch. Obwohl sein Vater nun schon seit geraumer Zeit tot war, ging sein Atem schneller. Es war, als bekäme er keine Luft mehr. Damals hatte er gewusst: Seine letzte Seminararbeit an der Uni musste mit einer Eins benotet werden. Sein Vater verlangte Rechenschaft über den Fortgang und die Noten seines Studiums. Trotz aller Erfolge hatte er ihn immer als Versager betitelt. Dieser Blick, diese kalten Augen! Schon als kleiner Junge bekam er kaum Luft, wenn ihn
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