Der Tote vom Silbersee (German Edition)
sein Vateransah.
Jetzt atmete er tief durch, nahm einen kleinen Schluck Cappuccino. Sein Gesicht verzog sich zu einem hämischen Grinsen. Der Alte hatte sich getäuscht, seine Abschlussprüfung war mit summa cum laude benotet worden. Dass es nicht die Eigene war, merkte keiner. Der verkrachte Student, der sie ihm geschrieben hatte, hing an der Nadel, und wenn man ihn mit genug Stoff versorgte, lieferte er erstklassige Arbeit.
Die Abschlussprüfung damals war ein Geniestreich gewesen. Eine seiner Gespielinnen hatte ihn blass geschminkt mit Schatten unter den Augen. Er hatte noch ein paar Kilos abgenommen, sodass er ziemlich klapprig aussah. Als er artig seinen Personalausweis am Eingang zum Audimax vorzeigte, presste er die Hand auf den Magen und tat, als müsse er ein Stöhnen unterdrücken.
Der Aufpasser fragte ihn mitfühlend, ob er sich gut genug fühle, um die Prüfung mitzuschreiben.
Er hatte es noch ganz genau im Ohr, als er sagte: »Geht schon, wirklich, ich werde nur ab und zu die Toilette aufsuchen müssen.«
Der Mann nickte verständnisvoll. Nach der ersten Viertelstunde sackte er im Stuhl zusammen. Er hielt sich mit der Hand den Mund zu und stand auf. Das verursachte natürlich einige Unruhe. Der Aufsicht habende Professor sah ihn mitleidig an. Er übergab sich seitlich auf den Boden. Dass es gelbe Limo war, die er im Mund hatte, bemerkte natürlich keiner.
Auf der Toilette hatte sich der junge Mann versteckt, dem er die Prüfungsaufgaben unter der Tür durchsteckte. Ein Tütchen wanderte ebenfalls von einer Kabine zur anderen.
So war das damals gewesen. Noch einmal täuschte er während der Prüfung Übelkeit vor. Er musste erneut das Örtchen aufsuchen. Diesmal wanderte ein vollgeschriebener Bogen in seine Kabine.
Er schüttelte sich erneut, als ihn die Erinnerung übermannte. Dann strich er sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Heute würde das sicher nicht mehr so einfach gehen. Aber damals …
Tja, dachte er, bald darauf hat es das Schicksal erneut gut mit mir gemeint, als der Alte bei einem der Besuche zu Hause einen Herzanfall bekommen hat.
Der schlanke Mann nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse, während seine Gedanken zu seinem Vater zurückwanderten.
Der hatte ständig kleine graue Pillen für sein krankes Herz geschluckt, wenn es holperte. Dann ging es ihm immer schnell besser. An jenem Tag allerdings war der Anfall so schwer gewesen, dass der Alte sich nicht mehr rühren konnte. »Meine Pillen«, hatte er gekrächzt und auf den Esstisch gezeigt. Bewusst langsam holte der Sohn das Döschen. Sein Spießervater rang nach Atem, keuchte und griff sich hilflos an die Brust. Langsam, ganz langsam ließ der Sohn die Pillen eine um die andere vor den Augen des alten Mannes auf den Boden fallen. Die Augen sprangendem alten Ekel fast aus dem Gesicht, als er kaum hörbar flüsterte. »Ich befehle dir …«
»Du hast mir nichts mehr zu befehlen, nie mehr!«, sagte er leise und lächelte dabei. Dann ließ er das Döschen zu Boden fallen und ging auf sein Zimmer. Es lag am anderen Ende des Hauses. Dort ließ er sich auf sein Bett fallen und schlug seelenruhig eines seiner Bücher auf. Nun konnte er ein neues Leben beginnen, sein Leben.
Seine Mutter fand ihren toten Ehemann, als sie vom Einkaufen nach Hause kam. Die Pillen lagen verstreut auf dem Boden, ebenso die geöffnete Pillenschachtel. Ein paar Tage später wurde sein Vater beerdigt. Alles, was Rang und Namen hatte, fühlte sich verpflichtet, zur Beerdigung zu kommen. Schließlich war sein Vater eine geachtete Persönlichkeit gewesen. Über die Ausraster im Büro, die er sich von Zeit zu Zeit leistete, wurde auf der Beerdigung natürlich nicht gesprochen. Zum ersten Mal spürte er Freude daran, die Bekannten seines Vaters zu sehen, wie sie da vor ihm standen, sich bemühten, ein anständiges Beileid auszudrücken.
***
Der Mann, der nun seine Gedanken unterbrach und in sein Gesichtsfeld trat, sah aus wie ein erfolgreicher Geschäftsmann. Sein Anzug saß tadellos. Die Frauen im Café drehten sich um, lächelten ihnen zu. Da wusste er, dass der Russe halten würde, was er versprochen hatte.
23
»Äh, eigentlich nichts, wenn Sie mich so direkt fragen, Herr von Lindenberg«, stotterte Lena.
»Ich würde Ihnen gerne unser schönes Nürnberg bei Nacht zeigen, Frau Wälchli. Es gibt nette Lokale auf dem Weg zur Burg; dort kann man hervorragend essen. Nicht nur Bratwürstl«, fügte von Lindenberg charmant an.
»Was haben Sie mit mir
Weitere Kostenlose Bücher