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Der Tote vom Strand - Roman

Der Tote vom Strand - Roman

Titel: Der Tote vom Strand - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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drückte. Sie hatte schließlich auf dem Weg die ganze Flasche ausgetrunken.
    Sie erreichten eine Art Aufenthaltsraum mit zwei Sitzgruppen und einem Fernseher. Auch im Haus war keine Menschenseele zu sehen, sie fragte sich, ob aus Anlass des schönen Wetters vielleicht ein Ausflug unternommen worden sein könnte. Denn ihr Vater konnte doch unmöglich der einzige Patient sein? Es musste noch andere Psychofälle geben. Sie entdeckte eine Toilettentür und bat Frank, für einen Moment zu warten.
    Himmel, dachte sie, als sie fertig war und sich den ärgsten Schweiß abgewischt hatte. Ich will nach Hause. Wenn er nicht da ist, laufe ich weg.
    Frank wartete auf sie.
    »Arnold Maager, das ist dein Vater, nicht wahr?«
    Sie nickte und versuchte zu schlucken.
    »Du bist ihm noch nie begegnet?«
    »Nein. Jedenfalls... nein, egal. Das hier ist das erste Mal!«

    Er lächelte, und versuchte, irgendwie wohlwollend auszusehen, wie sie annahm. Konnte kaum mehr als zwei oder drei Jahre älter sein als sie. Ein- oder zweiundzwanzig vielleicht. Sie holte tief Atem und merkte, dass sie ein wenig zitterte.
    »Nervös?«
    Sie seufzte.
    »Ein bisschen aufregend ist es schon.«
    Er kratzte sich am Bart und schien nachzudenken.
    »Er ist nicht sonderlich redselig, dein Vater. Normalerweise jedenfalls nicht. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Du möchtest mit ihm allein sein?«
    »Ja, sicher. Warum... stimmt etwas nicht... ?«
    Er zuckte mit den Achseln.
    »Nein, alles in Ordnung. Ich bring dich zu seinem Zimmer. Ihr könnt ruhig da sitzen bleiben. Ihr könnt auch einen Spaziergang durch den Park machen, das tut er gern... und in der Küche gibt es Tee und Kaffee.«
    »Danke.«
    Er zeigte auf einen weiteren Gang. Ließ sie vorgehen.
    »Hier ist es. Nummer sechzehn. Ich bin unten im Stationszimmer, wenn du mich brauchst.«
    Er klopfte an die Tür und öffnete sie, ohne auf Antwort zu warten. Sie kniff die Augen zusammen und zählte bis fünf. Dann ging sie hinein.

7
    Der Mann, der vor dem offenen Fenster in einem Sessel saß, erinnerte sie an einen Vogel.
    Das war ihr erster Gedanke, und auf irgendeine Weise konnte sie sich nicht davon befreien.
    Mein Papa ist ein Vogel.
    Er war klein und dünn. Trug eine zu weite, abgenutzte Cordhose und ein blaues Hemd, das um seine mageren Schultern schlotterte. Der Kopf auf dem dünnen Hals war lang und schmal; er hatte dunkle, tief in ihre Höhlen eingesunkene Augen und eine spitze, ein wenig krumme Nase. Dichte, kurz geschnittene Haare. Einen Zweitagebart, der noch etwas dunkler war.
    Er ließ das Buch sinken, in dem er gelesen hatte, und schaute sie für zwei Sekunden an. Dann schlug er die Augen nieder.
    Sie blieb vorder Tür stehen und hielt den Atem an. Hatte plötzlich das Gefühl, sich geirrt zu haben. Vielleicht hatte sie — oder eher der junge Pfleger — das falsche Zimmer erwischt. Das da sollte ihr Vater sein? Diese schmächtige Gestalt sollte ...
    »Bist du Arnold Maager?« Mit dieser Frage riss sie sich aus ihren Gedanken. Und staunte darüber, dass ihre Stimme immerhin fast ruhig klang.
    Er schaute wieder zu ihr auf. Feuchtete sich mit der Zungenspitze die Lippen an.
    »Wer bist du?«
    Seine Stimme klang ebenso dünn wie ihr Besitzer. Sie stellte ihren Rucksack auf den Boden und setzte sich in den anderen Sessel.
Wartete einen Moment, ließ seinen Blick jedoch nicht los. Entdeckte, dass er noch nicht sonderlich alt aussah. Fünfundvierzig vielleicht. Ihre Mutter war dreiundvierzig, das konnte also stimmen.
    »Ich heiße Mikaela. Du bist mein Vater.«
    Er gab keine Antwort. Zeigte keine Reaktion.
    »Ich bin deine Tochter«, fügte sie hinzu.
    »Meine Tochter? Mikaela?«
    Er schien noch tiefer in sich zusammenzusinken, und seine Worte waren so leise, dass sie sie nur mit großer Mühe verstehen konnte. Das Buch fiel zu Boden, aber er bückte sich nicht danach. Seine Hände zitterten ein wenig.
    Jetzt nicht weinen, dachte sie. Bitte, Papa, jetzt nicht weinen.
     
    Später wusste sie nicht mehr, wie lange sie einander schweigend gegenüber gesessen hatten. Alles in allem. Vielleicht war es nur eine halbe Minute gewesen, vielleicht auch zehn. Es war so seltsam. Der Augenblick schien nicht zu vergehen und war zugleich endlos lang, und als er dann doch vergangen war, ging ihr langsam etwas auf, was ihr noch nie klar gewesen war, worüber sie sich niemals auch nur Gedanken gemacht hatte... etwas über Sprache und Schweigen. Und über Gefühle.
    Sie konnte es nicht genau benennen, aber

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