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Der Tote vom Strand - Roman

Der Tote vom Strand - Roman

Titel: Der Tote vom Strand - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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zum ersten Mal in ihrem Leben begriff sie, dass es möglich war, etwas zu erleben, ohne darüber zu sprechen. Etwas mit einem anderen zusammen zu erleben und es doch nicht in Worte zu kleiden. Nicht einmal für sich selber. Weder während es passierte, noch später... weil die Worte, die schwerfälligen Worte, niemals hundertprozentig zutrafen, und weil es deshalb notwendig wurde, auf sie zu verzichten. Damit sie die Erlebnisse nicht überfuhren und verzerrten.
    Es war besser, stumm dazusitzen und zu erleben. Alles so sein zu lassen, wie es war. Ja, so ungefähr sah sie jetzt alles. Lernte es während ihrer ersten Begegnung mit ihrem Vater. Ihrem Vogelvater.
    Eine halbe Minute also. Oder zehn.

    Dann erhob er sich. Ging zum Schreibtisch neben dem Bett und zog die unterste Schublade auf.
    »Ich habe dir geschrieben«, sagte er. »Gut, dass du es holen kommst.«
    Er zog ein Bündel Briefe hervor. Es war sicher fünfzehn Zentimeter dick und mit einem schwarzen Band umwickelt.
    »Es wäre besser, sie wegzuwerfen. Aber wo du schon hier bist, kannst du sie auch haben.«
    Erlegte das Bündel auf den Tisch und ließ sich wieder in seinen Sessel sinken.
    »Verzeih mir«, sagte er. »Aber du hättest nicht kommen sollen. Und ich glaube, es ist besser, du gehst jetzt.«
    Er zwinkerte einige Male und bewegte ruckhaft den Kopf. Sah sie lange nicht an, und sie nahm an, dass er sich nicht wohl in seiner Haut fühlte. Dass es ihm unangenehm war, seiner plötzlich aufgetauchten Tochter gegenüberzusitzen.
    »Ich will dich sehen und mit dir sprechen«, sagte sie. »Bis gestern wusste ich nicht, wer du bist. Ich will wissen, warum alles so gekommen ist.«
    »Es ist meine Schuld«, sagte er. »Ich habe etwas Entsetzliches getan, und deshalb muss alles so sein, wie es eben ist. Es lässt sich nicht ändern. Das ist unmöglich.«
    Wieder warf er den Kopf hin und her.
    »Ich verstehe es nicht«, sagte Mikaela Lijphart. »Ich muss es aber wissen, um es verstehen zu können.«
    »Geht nicht«, sagte er.
    Danach verstummte er und starrte die Tischplatte an. Beugte sich vor und umklammerte die Armlehne mit den Händen. Noch mehr Zeit verging.
    »Du hast einen anderen Vater. Das ist besser so. Geh jetzt.«
    Sie spürte, wie das Weinen ihr im Hals brannte.
    Sieh mich an, dachte sie. Fass mich an! Sag, dass du mein Papa bist und dass du dich darüber freust, dass ich endlich gekommen bin!
    Aber er saß nur da. Das seltsame Schweigen war verschwunden
— oder hatte sich verändert —, und jetzt gab es nur noch Leid und Hoffnungslosigkeit. Dass ein Moment so schnell verloren gehen kann, dachte sie mitwachsender Verzweiflung. Und so total vergeudet.
    »Ich weiß nicht einmal, was passiert ist«, flüsterte sie und versuchte, die Tränen zurückzudrängen, die hinter ihren Augen brannten. »Meine Mutter sagt nichts, und du sagst nichts. Begreift ihr denn nicht, dass ihr mir alles erzählen müsst? Ihr ... ihr verdammtes Mistpack!«
    Sie sprang auf und stellte sich vor das Fenster. Kehrte ihm den Rücken zu. Beugte sich vor und umklammerte das spitze Blech, bis es wehtat und die Verzweiflung vor Schmerz und Wut zurückkehrte. Mistpack, wiederholte sie in Gedanken. Verdammtes, verdammtes Mistpack, ja, genau das seid ihr.
    »Ihr bildet euch ein, zu wissen, was gut für mich ist, aber ihr habt keine Ahnung!«
    Er rührte sich nicht, aber sie konnte hören, wie er hinten in seinem Sessel atmete. Schwer und mit offenem Mund, wie jemand, der an Polypen litt. Sie beschloss, ihn für eine Weile zu ignorieren. Ihre Aufmerksamkeit abzuwenden, zumindest es zu versuchen. Sie hob den Blick. Draußen im Park breiteten sich Sommer und Sonnenschein aus. Derbellende Hund hatte sich inzwischen beruhigt. Er lag im Schatten auf dem Bauch und döste mit ausgestreckter Zunge vor sich hin, das konnte sie von hier oben sehen. Sie hatte einen guten Blick auf die Umgebung, sie sah die Straße, auf der sie gekommen war, und den Ort, bei dem sie den Bus verlassen hatte, St. Inns. Weiter hinten lag das Meer — eher wie eine Ahnung, und sie fragte sich, wieso ihr das Leben trotz dieser Sicht so ungeheuer ausweglos vorkam. Trotz des Sommers, des Sonnenscheins und des endlosen Himmels.
    »Wie alt bist du, Mikaela?«, fragte er plötzlich.
    »Achtzehn«, antwortete sie, ohne sich umzudrehen. »Ich bin gestern achtzehn geworden.«
    Dann fiel ihr ein, dass sie etwas für ihn mitgebracht hatte. Sie ging zu ihrem Rucksack und nahm das Päckchen heraus.

    Zögerte einen Moment, dann

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