Der Tote von der Isar: Kriminalroman (German Edition)
Fruchtsäfte. An Windeln würde Nele sicher gedacht haben, anderenfalls hatte der Supermarkt auch bis zwanzig Uhr geöffnet.
Sobald er die Lebensmittel verstaut hatte, inspizierte Gerald die Wohnung. Er begann mit dem Schlafzimmer. Anne hatte das Bett gemacht, bevor sie gegangen war. Ohne nachzudenken zog er sich nackt aus und legte sich hinein. Er spürte Annes Geruch in der Nase, schloss die Augen und dachte an die Zärtlichkeiten, aber auch an das Herumalbern in der letzten Nacht. Hatte er ein schlechtes Gewissen Nele gegenüber? Aber halt – musste er nicht viel eher ein schlechtes Gewissen Anne gegenüber haben? Konnte er ihr überhaupt etwas von dem Überraschungsbesuch erzählen? Oder besser gesagt: Wie konnte er ihn verschweigen?
Ein Anflug von Kopfschmerz hinderte ihn, weiter darüber nachzudenken. Es war einfach zu kompliziert. Er zog das Bett ab und legte das Bettzeug in den Wäschekorb im Badezimmer. Dann duschte er abwechselnd heiß und kalt.
Als er sich im Schlafzimmer anzog, fiel sein Blick auf das Handy. Er hatte eine SMS bekommen. »Zug hat Verspätung. Ankunft gegen halb sieben. Hoffe, du kannst uns abholen. Bitte kurz antworten. Nele« Die Zurückhaltung und Höflichkeit berührten ihn. »Hoffe« und »bitte« passten nicht zu Nele, zumindest nicht zu der Nele des letzten Jahres. Was bedeutete das alles?
Mit einer gewissen Erleichterung erinnerte er sich daran, dass Anne an diesem Tag bis zwanzig Uhr im Callcenter arbeiten musste. Sie würde später versuchen, ihn während ihrer Pausen anzurufen. Gerald nahm sein Handy, tippte »Liebe Anne« und hielt inne. Sollte er ihr einfach schreiben, dass er dienstlich für ein paar Tage verreisen musste? Nein, das war eine feige Lüge. Was war eigentlich so schlimm an der Wahrheit? Er freute sich einfach darauf, seinen Sohn wiederzusehen und hatte nicht vor, mit Nele etwas anzufangen. Er berichtete Anne in einer knappen SMS von Neles und Severins Besuch und fügte noch hinzu, dass er sie sehr vermisse und sich bald wieder melden würde.
Um zwanzig nach sechs betrat Gerald den Münchner Hauptbahnhof und suchte auf der Anzeigentafel nach Neles Zug. Die Verspätung war mittlerweile um weitere fünf Minuten angewachsen. Gerald ging den Bahnsteig entlang, der endlos zu sein schien. Seine Hände fühlten sich plötzlich leer an. Er hatte kein Geschenk, keine Blumen, nichts. Aber wäre das überhaupt passend? Sie bestimmt, wann ich Sevi an den Wochenenden besuchen darf. Sie bestimmt, wo und wie lange ich ihn sehe. Und sie beschließt spontan, nach München zu kommen. Zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Hat sie etwa Blumen verdient? Doch es war ohnehin zu spät, denn der Zug fuhr bereits langsam ein. Zuerst kamen die Abteile der ersten Klasse, dann der Speisewagen. Gerald lief jeden einzelnen Waggon ab, konnte aber Nele und Sevi nicht entdecken.
Schließlich erreichte er das Ende des Zuges, der nun stand. Die Türen öffneten sich, die Fahrgäste strömten heraus, bewaffnet mit Koffern, Sporttaschen, Surfbrettern. Gerald lief den Weg zurück, passierte mehrere Frauen mit Kindern, die nicht Nele und Severin waren, stolperte vor Aufregung gegen Koffer und eine Reklamesäule – und sah plötzlich, ganz am Anfang des Bahnsteigs, Severin, auf dem Arm seiner Mutter. Severin lächelte, und das Lächeln fuhr wie ein Schwerthieb durch Geralds Herz. Welches Recht, dachte er, hat sie nur, in Gottes Namen, meinen Sohn von mir zu trennen? Nele hatte noch nichts bemerkt, blickte suchend in die Bahnhofshalle und schien in ihrer Manteltasche nach dem Handy zu fingern. Erst als Gerald seinen Sohn, der lächelte und lächelte und lächelte, unter den Achseln fasste, drehte sie sich um.
»Ach, da bist du«, sagte sie.
Gerald drehte Severin in der Luft, indem er ihn flach ausgestreckt über seinem Kopf auf den Händen balancierte und seinen Körper im Stand drehte. Flieger, das konnten weder Nele noch ihre Eltern mit ihm spielen.
»Entschuldige, ich war rechtzeitig da. Keine Ahnung, wie ich euch …«
»Wir sind in der ersten Klasse gefahren, weil die Mutter-Kind-Abteile belegt waren.«
Jetzt sah Gerald den Koffer, einen Trolley und die Reisetasche, die neben Nele standen. Kommt sie mich besuchen oder zieht sie wieder ein, dachte er, sagte aber nichts. Er übergab ihr Severin, legte die Reisetasche auf den Trolley und ging mit dem gesamten Gepäck Richtung Ausgang.
»Er ist wahnsinnig gut drauf in den letzten Tagen«, sagte Nele, »macht alles mit, lacht immer, lässt
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