Der Tote von der Isar: Kriminalroman (German Edition)
aber er hielt den Satz zurück.
»Ich bin sehr müde und möchte eigentlich nur etwas Wein trinken.«
Während sie trank, fiel ihm plötzlich die große Ähnlichkeit zwischen Anne und ihr auf. Sie hätten leicht Schwestern sein können, Nele die etwas ältere, kräftigere. Aber sie hatten das gleiche längliche Gesicht, die schmale Nase und das schmale Kinn. Nur war Neles Haar viel dunkler. Und sie sah nun wirklich müde aus, die Augen lagen tief in den Höhlen, ihr Blick war unruhig.
Gerald aß ohne Appetit eine Scheibe Brot mit Schinken. Dann erzählte er vom aktuellen Mordfall und erwähnte vorsorglich, dass er vermutlich auch am Wochenende arbeiten müsste.
»Klar. Das ist dein Job. Sevi und ich, wir werden uns schon beschäftigen.«
Sie sagte nicht, wie lange sie bleiben wollte. Dann sprachen sie über Nebensächlichkeiten, er erkundigte sich nach ihren Eltern, sie erkundigte sich nach seiner Mutter. Die Weinflasche leerte sich.
»So«, sagte sie schließlich und stellte das Glas in die Spüle. »Ich muss dringend schlafen. Kann ich zuerst ins Bad?«
Als Gerald alleine war, schaltete er sein Handy an. Aber keine Nachricht von Anne. Er spürte einen kurzen Stich, fühlte sich dann aber zu müde, um ihr noch eine SMS zu schicken. Was soll sie mir auch schreiben?, dachte er resigniert.
Sobald Nele im Schlafzimmer war, ging er selbst ins Bad, putzte sich die Zähne und betrachtete sein müdes Gesicht im Spiegel. Er war das Kämpfen so unendlich leid.
Natürlich hatte Nele das Licht im Schlafzimmer bereits gelöscht. Severin schlief ruhig in seinem Kinderbett.
Gerald kroch vorsichtig über Nele hinweg ins Bett. Er lag immer auf der Seite an der Wand, sie nahe zum Kind. Es war ihm bewusst, wie geradezu lachhaft inkonsequent er sich verhielt. Wenn er Berührungen hätte vermeiden wollen, hätte er sich ins Wohnzimmer legen müssen.
Er hörte an ihrem Atem, dass sie nicht schlief. »Warum bist du gekommen?«, fragte er nach einigen Minuten, das Gesicht immer noch zur Wand gedreht.
Sie schwieg zunächst. »Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken«, sagte sie endlich.
Mehr sagte sie nicht. Aber ihre Hand tastete über seinen Bauch.
15
»Ich hoffe, dir geht es nicht so beschissen, wie du aussiehst«, bemerkte Batzko mit unüberhörbarem Vorwurf in der Stimme, als Gerald das Büro betrat. Er hatte die Morgenbesprechung – glücklicherweise keine »große« mit dem Polizeipräsidenten – geschwänzt. »War was Besonderes?«
»Tanja Hillenbrand ist sehr nervös. Sie wird von der Presse zu unserem Fall regelrecht gelöchert. Vermutlich werden in den nächsten Tagen Artikel erscheinen, mit Details, die eigentlich gar nicht an die Öffentlichkeit gehen sollten. Sie vermutet einen Maulwurf im Präsidium.«
Gerald trank einen Schluck Kaffee. »Irgendjemand ist eben immer auf ein Nebeneinkommen angewiesen.«
»Vielleicht jemand, der sich mit zwei Frauen gleichzeitig trifft.«
Gerald antwortete nicht. Er musste gähnen, und als er die Hand über den offenen Mund legte, spürte er, dass er in der Eile vergessen hatte, sich zu rasieren. Nele war danach sofort eingeschlafen, den Arm um seine Hüften gelegt, während Gerald sich unruhig in dem zu schmalen Bett wälzte. Um sie und Severin nicht zu wecken, hatte er sich schließlich auf die Couch im Wohnzimmer zurückgezogen. Aber auch dort schlief er unruhig, fuhr immer wieder schweißgebadet im Schlaf hoch. Er fühlte sich zerrissen wie noch nie zuvor. Einerseits spürte er deutlich, dass er sich in Anne verliebt hatte, doch bei einer Trennung würde er auch Severin verlieren. War nicht er das Wichtigste in seinem Leben? Warum sollte sein Kind dafür bestraft werden, dass seine Eltern sich nicht zusammenraufen konnten?
Selbst als es langsam hell geworden war, hatte er immer noch keine Lösung für sein Problem gefunden.
»Hast du Mostert und die Thalers gestern noch erreicht?« Gerald versuchte sich auf den Fall zu konzentrieren.
»Sie opfern ihre Mittagspause für uns. Widerwillig zwar, aber sie tun es. Wir treffen uns um zwölf Uhr vor der Wohnung. Falls du bis dahin noch wach bist.«
»Jetzt komm mal wieder runter, Batzko. Es hat auch bei dir einige Nächte gegeben, die deutlich zu kurz waren«, fuhr Gerald seinen Kollegen an.
»Stimmt. Nur waren die meistens aus schöneren Gründen zu kurz als deine.«
Volltreffer, musste Gerald zugeben. Aber er behielt es für sich.
»Denkst du nicht«, sagte Batzko nach kurzem Schweigen, »dass Edith Baumann nicht auch
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