Der Tote von der Isar: Kriminalroman (German Edition)
sich von jedem in den Arm nehmen.«
»Sogar von seinem Vater, willst du damit sagen?«
Nele presste die Lippen aufeinander. Sie sah Gerald nicht an, aber er meinte in ihrem Gesicht zu erkennen, dass sie ihren Kommentar bedauerte. Und auch Gerald tat es Leid, dass sie mit der Begrüßung schon wieder in ihr altes Muster zurückgefallen waren.
Sie schwiegen, bis sie im Auto saßen.
»Hast du großen Hunger? Soll ich irgendwo anhalten?«
»Ich möchte eigentlich nur nach Hause. Sevi hat vorhin im Zug noch etwas gegessen … Danke, dass du fragst«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.
Während der Fahrt betrachtete er Nele immer wieder im Rückspiegel. Sie saß neben Severin in seinem Kindersitz. Ihr Gesicht hatte sich entspannt. Da war nicht mehr der verkniffene Zug um den Mund, der bei seinen Besuchen bei ihr auch nach Stunden nicht hatte weichen wollen. Sie trug die Haare etwas länger, und Gerald erkannte die Ohrringe, die er ihr vorletztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte.
Als er vor ihrer Wohnung hielt, war Severin bereits eingeschlafen. Nele befreite ihn vorsichtig aus dem Kindersitz, während Gerald sich um das Gepäck kümmerte. Er schloss die Haustür auf und ließ Nele mit Severin auf dem Arm den Vortritt. Es gab ihm einen kleinen Stich, als sie mit ihrem eigenen Schlüssel die Wohnungstür öffnete. Andererseits – es war schließlich ihre gemeinsame Wohnung. Gerald stellte die Koffer in den Flur und sagte, dass er einen Parkplatz für den Wagen suchen würde.
Als er zurückkam, standen die Koffer noch an derselben Stelle. Die Erklärung war einfach: Wie eine Katze, die sich in einer neuen Umgebung befindet, inspizierte Severin die Wohnung, krabbelte mal vorwärts, mal rückwärts in jede Ecke, griff nach Couchbeinen, Garderobenständern, ertastete Steckdosen und Kabel. Nele immer einen Schritt hinter ihm.
»Ich löse dich ab«, sagte Gerald lächelnd. Sie nickte, und als sie an ihm vorbeiging, streifte sie seine Hüfte mit ihrer rechten Hand.
Severin war es recht, solange er in seinen Feldstudien fortfahren konnte. Er wirkte nun wie aufgedreht nach den Stunden im Zug, die ihn zur Bewegungslosigkeit verurteilt hatten. Gerald ertrug es nur schwer, sein Kind nicht zu berühren. Aber Sevi quengelte augenblicklich, sobald er in den Arm genommen wurde. Zu seiner Erleichterung und Überraschung ließ ihn Nele, die in der Küche hantierte, gewähren. Ihre Ruhe irritierte ihn. Vorhin, vor der Ankunft des Zuges, war der Gedanke durch seinen Kopf geschossen, dass sie nur gekommen war, um ihm zu sagen, dass sie einen anderen hatte. Aber um ihm das mitzuteilen, dachte er sich dann, wäre sie wohl kaum mit dem Kind nach München gefahren.
Nun versuchte Severin, sich an einer Wand aufzurichten. Aber selbst das wollte er ganz alleine schaffen. Gerald ging in die Hocke, streckte die Arme als Vorsichtsmaßnahme aus und sprach seinem Sohn Mut zu. Tatsächlich versuchte es Sevi noch ein zweites und ein drittes Mal. Die Vorstellung, dass er von diesen Erlebnissen weiterhin abgeschnitten sein würde, machte Gerald so wütend, dass er am liebsten aufgeschrien hätte.
Bald darauf kam Nele und nahm Severin behutsam auf den Arm. Er ließ es sich gefallen und widerspruchslos in die Küche tragen. Nele hatte bereits eines der Gläschen für Severin im Wasserbad erhitzt.
»Ist es okay, wenn wir beide erst später essen?«, fragte sie.
»Klar.«
Nele stellte das Gläschen auf den Tisch und nahm Severin auf den Schoß. Nachdem der Kleine ungefähr die Hälfte gegessen hatte, reichte Nele den Löffel wortlos an Gerald weiter. Sevi kommentierte den fliegenden Wechsel mit einem Leuchten in den Augen.
Nach dem Essen verschwanden Nele und Severin im Badezimmer, während Gerald sich um den Abwasch kümmerte. Plötzlich fühlte er sich sehr müde. Er hatte keine Idee, was er für sich und Nele kochen könnte, und so stellte er lediglich eine Brotzeit auf den Tisch und öffnete eine Flasche Rotwein. Aus dem Badezimmer war ein Quengeln zu hören, vermutlich war Severin erschöpft von der langen Reise und überfordert von der neuen Umgebung.
Nach einer Weile, nachdem Nele Severin zu Bett gebracht hatte, kam sie in die Küche und setzte sich ihm gegenüber. »Im Bad und im Schlafzimmer ist ein ziemliches Chaos, weil ich nur die Sachen rausgenommen habe, die ich jetzt gebraucht habe. Morgen räume ich auf. Ist das in Ordnung?«
»Kein Problem.« Es lag ihm auf der Zunge zu sagen: »Das ist unsere Wohnung, nicht meine«,
Weitere Kostenlose Bücher