Der Toten tiefes Schweigen
einzige Problem war, dass Luke ihn gern wegen der »Jesus-Gang« hänselte. Als Tom im Sommer im Zeltlager gewesen war, hatte Luke ihn mit schmutzigen SMS bombardiert. Allerdings waren die sehr, sehr witzig gewesen. Doch vor drei Abenden hatte Luke ihn angerufen, Luke hatte ihn abgeholt, Lukes Vater hatte ihn ins Krankenhaus gefahren und gewartet und ihn dann mit zu ihnen nach Hause genommen, Lukes Mum hatte ihm Essen vorgesetzt und ihm ein sauberes Taschentuch gegeben, in das er weinen konnte, als ihm alles bewusst wurde. Und ihn in den Arm genommen. Alle hatten ihn umarmt. Da hatte er noch nicht gewusst, ob seine Mum am nächsten Morgen noch am Leben oder tot wäre.
Das
Rattlers
lag in einer Nebenstraße in der Nähe der Bushaltestelle, dort gab es Pastete mit Erbsen, Pastete und Pommes, Pastete und Kartoffelpüree, Pastete mit Eiern. Die Kneipe war klein und schmierig und ständig überfüllt.
»Machst du dieses Wochenende wieder in Gott?«, fragte Luke, als sie ihren Tee bekamen und Essen bestellten.
»Sprich nicht so darüber.«
Luke stieß ihn an und grinste. Sie lungerten an der Theke herum und warteten, bis zwei Arbeiter von ihrem Tisch aufstanden.
»Am Samstagabend habe ich von Gott nicht viel gemerkt. Vielleicht hatte er frei?«
»Ja, schon, meine Mum hätte sterben können.«
»Genau.«
»Wie?«
»Genau, sie ist verschont worden, die anderen acht nicht.«
»Lass es.«
Luke benutzte die Ellbogen, um an den Tisch zu kommen.
Tom setzte sich und sah aus dem Fenster auf das Graffito an der Wand der Bushaltestelle. FÜHRT DEN STRANG WIEDER EIN .
»Wird deine Mum diesen Russell heiraten?«
Tom zuckte mit den Schultern.
»Ist doch okay. Er ist in Ordnung.«
»Nein, ist es nicht, und er ist es auch nicht. Er ist seltsam.«
»Man fragt sich schon.«
»Was?«
»Was für ein Lehrer übers Internet Kontakt sucht.«
Tom wurde rot. »Wer hat das gesagt?«
»Du.«
»Nein, niemals. Davon habe ich niemandem etwas gesagt.«
»Stimmt. Dann weiß ich von nichts. Hatte ja keine Ahnung, dass es ein Geheimnis ist. Jesse Cole hat gesagt, Mr.Russell habe es ihnen erzählt.«
»Phil hat es Jesses Klasse erzählt?«
Ihr Essen kam. Luke stach mit der Messerspitze in die Pastete, dass Dampf entwich. »Ist doch nicht schlimm«, sagte er.
»Doch. Das rückt auch sie in ein eigenartiges Licht, und so ist sie nicht.«
»Weiß ich. Alle wissen es. Was macht das schon? Was denken denn deine Jesuskumpel?«
Tom senkte den Kopf. Darauf antwortete er nicht. Nie. Das war seine Sache. Und vertraulich.
»Jedenfalls wirst du abhauen und diesen Bibelcrashkurs absolvieren, daher kann es dir ja egal sein, oder? Wenn du zurückkommst, was fängst du damit an?«
»Womit?«
»Mit dem Crashkurs.«
»Sag …«
»Stellst du dich an Straßenecken und so? Kommet her und werdet errettet?«
Tom schnipste eine Erbse über den Tisch in Lukes Gesicht.
»Genau.« Luke schnipste eine Erbse fachmännisch zurück.
Als sie auf die Straße hinaustraten, sagte Tom: »Ich hasse ihn.«
»Das darfst du nicht sagen.«
»Warum?«
»Für Hass kannst du in die Hölle kommen.«
»Das würde ich auch«, sagte Tom. »Ich würde sogar in die Hölle gehen.«
Luke warf ihm einen Blick zu. Er meint es ernst, dachte er. Er hasst ihn und meint es auch so, verdammt.
Zu Hause machte Tom sich noch einen Tee und fand hinten im Kühlschrank eine Tafel Milchschokolade. Er stellte sich ans Küchenfenster, biss ein Stück Schokolade ab, schlürfte heißen Tee und vermischte beides im Mund miteinander. Mit etwas Scham und einem gewissen Interesse dachte er über seine Gefühle nach. Er hatte noch nie jemanden gehasst, soweit er sich erinnern konnte. Aber er hatte
Dinge
gehasst. Den Krebs, der seinen Vater umgebracht hatte, zum Beispiel, doch das hatte sich wie rechtschaffener, purer Hass angefühlt. Wenn er lange genug daran dachte, konnte er diesen Hass auch jetzt noch heraufbeschwören, und es war wie eine saubere Flamme, gerade und gleichmäßig. Was er für Mr.Russell empfand, war schmutziger. Ein dreckiger, schäbiger Hass. Er war mit zu vielen anderen Dingen vermischt. Wieder sein Vater. Wut. Verwirrung. Eifersucht eines kleinen Jungen. Abneigung gegen den Atheismus von Mr.Russell, der mit intellektuellen Ansichten punktete, spottete, hänselte und klug daherredete. Er konnte Argumente derart verständlich widerlegen, dass Tom sich unfähig und als Versager fühlte, weil er seinen Glauben nicht verteidigen und nicht überzeugend vorbringen
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