Der Toten tiefes Schweigen
Meinung‹. Nein, sie wollten, dass ich die Ärzte überredete. Ich konnte es nicht, es war nicht an mir, das zu tun, und selbst wenn, hätten sie nicht zugehört. Doch die Angehörigen waren so verzweifelt, und was sie sagten, habe ich verstanden, Jane. Sie sagten, es sei nicht so, dass sie ihren Tod wünschten, denn für sie sei die alte Dame schon vor langer Zeit gestorben, aber wenn sie jetzt ruhig einschliefe, hätte sie endlich ihren Frieden gefunden und wäre von Not und Schmerz befreit – und sie hatten recht. Sie hatten recht. Niemand weiß, wie lange sie noch lebt – vielleicht Stunden, aber es kann sich auch noch wochenlang hinziehen. Sie hoffen, dass es nicht so ist, aber …«
Zwei junge Männer kamen durch den dichter werdenden Nebel auf die Collegegebäude zugelaufen. Sie trugen Unterhemden und kurze Hosen und wirkten angestrengt.
»Was meinst du?«
»Willst du wissen, was ich gesagt hätte? Dasselbe wie du, weil wir es müssen.«
»Hat man dich dazu im Hospiz aufgefordert? Einzuschreiten? Die Ärzte zu bitten, ein Leben zu beenden?«
»Ja. Nur zweimal, obwohl ich mir sicher bin, dass die Ärzte öfter darum gebeten werden.«
»Und?«
»Hör zu, ich verstehe die Bitte … Doch in einem Hospiz ist der Schmerz so gut unter Kontrolle, und man ist bemüht, das Leben so lebenswert wie möglich zu gestalten, und das ist nicht dasselbe. Der Tod ist für gewöhnlich nicht fern.«
Er schwieg.
»Glaubst du, du hättest zustimmen sollen?«
Er schüttelte den Kopf, sagte aber nichts, und dann merkte Jane, dass er weinte.
»Peter?«, fragte sie leise.
Er schaute unentwegt aus dem Fenster. »Ich habe es selbst getan, verstehst du?«, sagte er schließlich. »Ich habe sie gebeten, ihr etwas – etwas viel Stärkeres zu verabreichen.« Er sah Jane an. »Meiner Frau.«
»Oh, Peter, das wusste ich nicht.«
»Woher auch? Sie hatte ein Melanom.«
»Wann war das?«
»Oh, vor zwei Jahren. Ein Grund, warum ich nach Cambridge gekommen bin. Nur dass man nie davonlaufen kann, oder? Es geht nicht.«
»Das tut mir so leid. Dass du mit solchen Situationen wie heute Morgen umgehen musst, hilft dir nicht weiter.«
»Obwohl es anders ist.« Er stand auf. »Hast du Lust auf einen Spaziergang, bevor es dunkel wird?«
Sie gingen aus dem hinteren Tor hinaus, über die Martyr’s Bridge, und folgten dem Pfad in Richtung King’s, und Peter redete. Er sprach über seine Kindheit in einer Wohnsiedlung in York, seinen Besuch im Münster von York, allein an einem Abend während des abendlichen Chorgesangs, wie er hinten gestanden hatte, ein zwölfjähriger Junge, fasziniert vom Gesang, wie er zurückgeschlichen war – sich von allen entfernt hatte –, um langsam durch das große Gebäude zu gehen, zu schauen und manchmal zuzuhören und nachzudenken. Er sprach über seinen Entschluss, zuerst Christ und später Priester zu werden – keine Bekehrung, sagte er, sondern eine allmähliche, unvermeidliche Entscheidung. Über Alice. Über ihre zehn gemeinsamen Jahre, in denen sie sich Kinder gewünscht, aber keine bekommen hatten. Ihre Krankheit, schnell und schrecklich, und ihren Tod, schnell und ebenfalls schrecklich. Seine ersten Monate hier, als er sich einsam und fehl am Platz gefühlt hatte, verstört und unsicher in allem.
»Hast du deinen Glauben verloren?«
»Nie. Ich bin nur sehr, sehr wütend geworden.«
Sie gingen zurück durch die Straßen der Stadt, wichen in der zunehmenden Dämmerung Gruppen von Radfahrern aus. Jane hatte das Gefühl, den Nachmittag mit einem relativ Fremden begonnen und ihn mit jemandem beendet zu haben, den sie ziemlich gut kennengelernt hatte. Einem Freund.
Am Eingang zum College verabschiedeten sie sich. Sie musste noch zwei Bücher kaufen. Bei Heffers fand sie die Regale, die sie brauchte, stand aber davor, ohne zu sehen, und dachte über Peter Wakelin nach, über das Leben und Sterben, darüber, Sterbende am Leben zu erhalten.
Die Bücher, die sie haben wollte, waren nicht auf Lager. Als sie am Ladentisch darauf wartete, ihre Bestellung aufzugeben, nahm sie eine neue Ausgabe von T. S. Eliots Werk
Vier Quartette
in die Hand und schlug eine beliebige Seite auf.
Was hätte sein können, und was gewesen ist
weisen auf ein stets gegenwärtiges Ende.
Sie kaufte das Buch nicht, denn sie hatte eine eigene Ausgabe, doch es rief ihr ins Gedächtnis, wie viel Gehalt sie immer in Eliots
Vier Quartette
gefunden hatte, wie viel zwischen den Zeilen stand. Seine Gedichte hatten sie
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