Der Toten tiefes Schweigen
ging hinauf in sein Büro. Auf seinem Schreibtisch lagen neue Akten, und er musste einen Bericht über den Vorfall am Nachmittag schreiben. Es war zwanzig nach sechs. Der Bericht würde ihn etwa eine Viertelstunde kosten, und die Akten hatten Zeit bis morgen.
Sein Vater war am Abend zuvor aus Madeira zurückgekehrt. Simon dachte, er sollte vorbeischauen, ihn auf einen Drink einladen, was in ein angenehmes Abendessen münden könnte – gesetzt den unwahrscheinlichen Fall, dass Richard Serrailler nach seinem Urlaub milde gestimmt wäre.
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Vierzehn
I m Alter von vier Jahren hatte er seiner Mum gesagt, er werde sie heiraten, und als sie aufgehört hatte zu lachen, um ihm mitzuteilen, das ginge nicht, weil sie bereits vergeben sei, sagte er, dann werde er Stephanie heiraten, nur hatte seine Schwester ihm deutlich gemacht, sie könne Jungen nicht leiden, ihn am allerwenigsten. Damit hatte es sich dann also, bis er mit fünfzehn Avril kennenlernte.
Er hatte sich nach Avril Pickering verzehrt. Er hatte sich ausgerechnet, wie lange es dauern würde, bis er sich mit ihr verabreden könnte, dann, wie lange es dauern würde, bis er eine Arbeitsstelle antreten und anfangen könnte zu sparen, wie lange, bis sie sich verloben könnten, wie lange, bis er genug hätte, um ein Haus zu mieten und sie zu heiraten. Er hatte alles aufgeschrieben, ganze Zahlenblöcke, alles. Auf dem Papier hatte alles seine Richtigkeit. Gut. Dann war Avril Pickering mit Tony Fincher gegangen. Er hatte sie gesehen, wie sie händchenhaltend die Port Street hinuntergeschlendert waren. Er hatte Avril Pickering gehasst. Tony Fincher nicht, komischerweise. Seine Schuld war es nicht, sondern ihre.
Er hatte geplant, ihr etwas anzutun, sie dahin zu bringen, dass sie es bereute, doch bevor er sich ausgemalt hatte, was es sein könnte, brachen die Sommerferien an, und als die Schule im September wieder anfing, war Avril nicht mehr da. Die Pickerings waren umgezogen. Nach Scunthorpe, sagte jemand; nach London, ein anderer. Niemand wusste es genau.
Danach war er mit ein paar Mädchen ausgegangen. Vier oder fünf. Das Übliche. Nichts Besonderes darunter. Er begann sich zu fragen, warum so viel Wind darum gemacht wurde. Er sagte es Stephanie. Sie lachte. Er erzählte es Dad, als sie beim Schießen waren. Sein Dad musterte ihn und sagte dann, da habe er etwas Wichtiges kapiert. Wozu machte man so viel Wind darum? Richtig.
Dann hatte er Alison kennengelernt, die ihm Stephanies damaliger Verlobter und baldiger Ehemann vorgestellt hatte.
Und alles hatte sich verändert. Alison.
Er saß allein vor einem Bier und hing seinen Erinnerungen nach, denn am Empfang saß eine Neue, ihr Name war Alison, und alles kam wieder hoch. Lebendig. Alison sehen. Sie hören. Sie beobachten. Die winzigsten Dinge. Er konnte es wie einen Film im Kopf abspielen.
Dabei hatte er es nie vergessen. Doch wenn etwas passierte, derselbe Name, eine kleine Verbindung, hatte er alles wieder vor Augen. In Farbe. Lebendig.
Langsam und stetig trank er sein Bier aus, um die Wut zu stillen, die immer in ihm aufloderte. Funken. Ein Windhauch. Ein Feuer, das außer Kontrolle geriet und jahrelang durch nichts erstickt werden konnte.
Doch dann fand er es.
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Fünfzehn
H allam House. Es war dunkel, als er langsam durch die Straße darauf zufuhr. Die Lampen schienen hinaus in die Auffahrt.
Simon hielt an. Immer noch fiel es ihm schwer. Er kam nur ungern hierher, denn er wusste, dass er seine Mutter nicht sehen würde, dass Meriel nicht mähen oder etwas im Garten zurückschneiden würde, dass sie weder in der Küche noch an ihrem Schreibtisch am Fenster des kleinen Wohnzimmers zu sehen wäre. Jetzt sah er sie vor sich. Die Form ihres Kopfes, wie sie sich frisierte, wie sie aufschaute, ihren Ausdruck, wenn sie ihn erblickte.
Sie war nicht immer da gewesen, wenn er unangekündigt vorbeigekommen war. Auch als ihr umtriebiges Berufsleben als Beraterin des National Health Service vorbei gewesen und sie aus den meisten Komitees ausgeschieden war, hatte sie weiterhin dem einen oder anderen Vorstand angehört und war stets viel unterwegs gewesen. Aber wenn sie da war, nahm sie sich sofort Zeit für ihn, setzte sich, hörte zu, ließ sich auf den neuesten Stand bringen. Familie geht über alles, hatte sie gesagt.
Simon vermisste sie, seine Trauer war noch immer roh und schmerzhaft. Er dachte an sie, hatte ihr das eine oder andere sagen, sie nach ihren Ansichten über eine Person oder ein
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