Der Toten tiefes Schweigen
und sah dabei, dass sein Schritt merkwürdig war, ungleichmäßig und etwas wackelig. Sie schloss die Augen, denn sie wusste, warum, und war zu erschrocken, um es noch länger mit anzusehen.
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Siebenundzwanzig
D as Hotelgelände reichte bis zum Fluss hinunter. Auf der kleinen, geschwungenen Holzbrücke neben den Weiden ließen sich fast alle fotografieren – Braut und Bräutigam romantisch vereint, die Weidenzweige über sie geneigt, das vorbeigleitende Wasser. Geschickt machten sich Fotografen die Reflexionen zunutze. Der Bräutigam hielt einen Weidenast für die Braut hoch, damit sie darunter hindurchgehen konnte. Sie standen Hand in Hand, beugten sich über das Brückengeländer und blickten hinab. Das gelang immer.
Amy Finlayson, Veranstaltungsorganisatorin und Hochzeitskoordinatorin des Riverside Hotel, stand auf dem Rasen und sah zu, wie der Arbeitstrupp das Festzelt für den nächsten Tag aufstellte. Die Flügeltüren des Speisesaals würden zu der kurzen Steintreppe hin offen stehen, direkt darunter gelangte man ins Zelt, und mit etwas Glück konnten sie auch den hinteren Teil öffnen, damit die Gäste den Rasen sahen, der zum Fluss führte, um später dort hinunterzuschlendern. Diese Gesellschaft wollte um zehn ein Feuerwerk haben. Sie würden es von der Weide aus aufsteigen lassen. In diesem Jahr hatte sie sich ihre Sondervergütung und zusätzliches Trinkgeld verdient. Die Leute waren großzügig, wenn eine Hochzeit gut lief, sie gaben Trinkgeld im Überfluss. Ende Oktober würde sie ihren Urlaub in Kanada antreten.
»Ich verstehe Sie nicht«, hatte der Geschäftsführer gesagt. »Warum fahren Sie nicht in die Sonne an einen Strand? Warum nicht so etwas wie Mauritius?«
»Weil Mauritius nur eins bedeutet«, sagte Amy, »Scheißhochzeiten.«
Von seinem Standort aus, verborgen hinter dem dicken Stamm einer gekappten Weide, hatte er einen perfekten Blick – die gestikulierende Frau, die Männer am Zelt. Die Sichtlinie war ideal. Den Rasen hinauf, durch das Zelt bis zu den geöffneten Flügeltüren.
Vorsichtig schaute er sich um. Hinter ihm ein Holzzaun an einem Feld. Er konnte leicht hinüberklettern, doch das Feld war vom Hotel vollständig einzusehen. Auch der Pfad am Fluss war gut sichtbar. Nur wenn er sich links hielt, hatte er eine Chance, sich ungesehen davonschleichen zu können, und es war ein Risiko, denn obwohl dort abschirmende Bäume und eine Hecke standen, hatten beide entscheidende Lücken. Außerdem war es weit bis zur Straße. Zu weit. Hinzu kam, dass er sich nirgendwo sicher verkriechen konnte.
Nein. Dann wäre klar, von wo Schüsse abgegeben worden waren. Die Streifenwagen, besonders jetzt, wären schnell am Schauplatz. Er hatte keine Chance. Es sei denn …
Er lächelte. Es sei denn.
Es lag auf der Hand, so deutlich, dass er es sich als Zehnjähriger hätte ausdenken können.
Wieso bist du nicht gleich darauf gekommen?, dachte er.
Alison hatte von einem großen Zelt geträumt – hatte die Ausstattung seit Jahren in ihrem Kopf gestaltet, rosa und weiße Bänder um einen Maibaum geschlungen, eine rosa-weiße Markise und Blumengirlanden. In den vergangenen Wochen hatte sich alles zusammengefügt. Es würde ein Vermögen kosten. Ihre Mutter würde bezahlen. Für eine prächtige Hochzeit bezahlen.
Das war es, was sie wollte, und was sie wollte, war für ihn in Ordnung.
Alison.
Er fuhr nach Hause und spürte die Funken der Wut, die in ihm schwelte, sich stets neu entfachte und hoch aufloderte. Wenn etwas die Erinnerung wachrief, konnte er nur noch schwer atmen. Sein Brustkorb wurde eng. Selbst sein Sehvermögen veränderte sich zuweilen, trübte sich leicht.
Alison.
Er parkte den Wagen, schloss ihn ab, ging dann fünfhundert Meter zu dem Pub, das er bevorzugte, weil niemand sich für andere interessierte, niemand hinter der Bar zum Plaudern aufgelegt war.
Er bestellte ein Pint Fassbier, denn er verabscheute den süßen, schweren Geschmack von echtem Ale, das sie einem stets aufdrängen wollten, trug es in eine Ecke, zusammen mit der Lokalzeitung und einem Kuli, falls er etwas markieren musste.
Die Zeitung war voll von den Erschießungen. Drei Tote. Keine Hinweise. Keine Indizien. Jede Menge leeres Geschwätz, Seite für Seite, aber nichts Konkretes. Nichts, was ihn beunruhigte.
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Achtundzwanzig
S imon Serrailler lag rücklings auf dem Boden und rollte zuerst auf die linke, dann auf die rechte Seite, links und rechts, links und rechts. Er war ein
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