Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Toten tiefes Schweigen

Der Toten tiefes Schweigen

Titel: Der Toten tiefes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
Vom Netzwerk:
hochgewachsener Mann, und sein Rücken war seine Schwachstelle. In den letzten beiden Wochen hatte er stets fünfzehn Stunden am Tag gearbeitet, und obwohl er wusste, dass er zur Physiotherapie gehen sollte, hatte er keine Zeit gehabt.
    Er rollte sich noch zwölfmal nach links und nach rechts und legte sich dann wieder auf den Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, in der Stille seines Wohnzimmers. Bevor die Glocken anfangen würden zu läuten. Donnerstagabend ertönte immer das volle Geläut. Doch vorerst knarrten nur die Bodendielen gelegentlich, beruhigten sich wieder, als er sie von seinen Übungen verschonte.
    Die Übungen halfen ihm auch, den Kopf freizubekommen. Mit der Arbeit kam er klar. Er war jetzt zu lange dabei, um sie im Kopf mit nach Hause zu tragen. Irgendwann an diesem Tag hatte er seinem Team gesagt: »Wir werden ihn kriegen, und ich sage Ihnen auch, warum. Weil er einen Fehler machen wird. Ja, er ist clever und verschlagen, ja, er plant sorgfältig. Doch bei Schießdelikten gibt es zahlreiche Fehlerquellen, und früher oder später wird ihm einer unterlaufen, und er wird sich verraten. Damit will ich nicht sagen, dass wir stillsitzen und abwarten, bis es passiert. Wir werden in diesem Fall möglichst vorausschauend handeln. Aber ich bin zuversichtlich, wenn er etwas verpfuscht, und sei es noch so minimal, werden wir zur Stelle sein und ihn haben.«
    Er glaubte es.
    Er hatte die Augen geschlossen. Jetzt schlug er sie auf und sah sich in seinem Zimmer um, zehrte von der ruhigen Ordnung. Dann stand er auf, dehnte sich ein paarmal nach beiden Seiten und holte sich einen Whisky. Er wollte den Abend zu Hause verbringen, allein, sich eine Dokumentation über Italien ansehen und Simon Sebag Montefiores Stalinbiographie lesen. Das war die Zeit, die er dringend brauchte, Zeit, auf die er sich gefreut hatte, die so begrenzt war, dass er jeden Augenblick genoss. Er wollte seine Skizzenbücher vom Frühlingsurlaub auf den Färöer-Inseln durchblättern, wo er seine Lunge mit kristallkalter Luft vollgepumpt hatte und zwischen Seevögeln und grasgedeckten Häusern herumgelaufen war, was ihn belebt und zugleich friedlich gestimmt hatte. Im nächsten Jahr hatte er eine Ausstellung, die zur Hälfte aus diesen Zeichnungen bestehen würde, der Rest waren Porträts, viele von seiner Mutter. Er wollte sie durchsehen, sie in eine perfekte Ordnung bringen, was viel Zeit und Sorgfalt erforderte.
    Er streckte sich auf dem Sofa aus. Nicht nur Zeit fehlte ihm. Er brauchte einen Hafen, eine Zuflucht, und ihm war nicht klar, wann er das wiederfinden würde.
    Sein Schwager hatte einen Hirntumor. Simon kannte sich gut genug aus, um zu wissen, dass Chris nur geringe Chancen hatte. Er mochte Chris sehr, fände es hart, wenn sein Schwager nicht mehr da wäre, doch Simon hatte vor allem seine Schwester im Kopf und im Herzen. Ihre Zukunft, mit drei kleinen Kindern und einem stressigen Beruf, aber ohne ihren geliebten Ehemann, war unvorstellbar. Sie würde Simon brauchen. Er müsste Kraft und Zeit und Liebe für sie alle haben. Sonst war niemand da.
    Die Glocken begannen zu läuten. Simon ging ans Fenster und sah auf den Kathedralenhof hinunter.
    Stimmt nicht, nörgelte eine Stimme, stimmt nicht, und du weißt es. Dad ist da. Und jetzt sind es Dad und Judith.
    Judith Connolly.
    Sie ist nett, meckerte die Stimme. Sie ist warmherzig und freundlich und anscheinend aufrichtig, und sie wird deinem Vater eine Menge Gutes tun. Gibt es einen vernünftigen Grund, warum du ihr gegenüber so ablehnend bist? Nein.
    Während die Arbeit verworren und turbulent war, während Chris krank war und sehr wahrscheinlich sterben würde, während Judith an die Stelle seiner Mutter getreten war, konnte nichts ihn beruhigen, konnte er sich nicht an seinen Zeichnungen erfreuen oder seine nächste Ausstellung planen, konnte sich nicht entspannen und einfach nur da sein.
    Das Telefon klingelte.
    »Si?«
    Cat.
    Sie weinte.
    »Ich komme«, sagte Simon.
     
    Der Abend war wieder mild, ein weiterer Tag hatte die lange Neige des Sommers noch weiter hinausgezogen. Der Kathedralenhof war leer, die Glocken läuteten den ganzen Abend. Simon blieb einen Augenblick stehen und lauschte. Er war weder musikalisch noch gläubig – das überließ er Cat. Ihre Musik und ihr Glaube reichten für sie beide, hatte sie einmal gesagt. Doch er dachte an Chris, der einer entsetzlichen Krankheit, einer entsetzlichen Behandlung und sehr wahrscheinlich einem entsetzlichen Tod

Weitere Kostenlose Bücher