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Der Toten tiefes Schweigen

Der Toten tiefes Schweigen

Titel: Der Toten tiefes Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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hochheben und herumschwingen lassen. Jetzt wartete er mit ernstem Gesichtsausdruck.
    »Hi, Sam.«
    »Mum ist immer noch oben. Wie kommen die Ermittlungen wegen der Schießereien voran?«
    »Wir kriegen es raus.«
    Sie gingen hinein.
    »Ich habe dich im Fernsehen gesehen. Wie alt muss ich sein, wenn ich ein Praktikum bei der Kriminalpolizei machen will?«
    »Sechzehn.«
    »Das ist ungerecht.«
    Simon hörte Cats Schritte auf der Treppe. »Vieles ist ungerecht«, sagte er.
     
    Sam hatte das neue Buch von Alex Rider, doch er wollte nicht gern allein gelassen werden, stellte ängstliche Fragen nach Chris, plauderte ohne Punkt und Komma darüber, ob Hunde im Dunkeln sehen könnten und ob sein Bruder später einmal bessere Mathenoten haben würde als er. Seine Blicke gingen zwischen Simon und Cat hin und her auf der Suche nach Trost. Sie saßen bei ihm, redeten, antworteten. Am Ende hatte er einfach das Buch aufgeschlagen, sich von ihnen abgewandt und gesagt: »Ich lese jetzt.«
    Felix schlief, das Gesicht auf dem Kissen, die Knie hochgezogen, als wollte er wegkrabbeln. Simon lachte.
     
    »Ja«, sagte Cat, »sie halten mich aufrecht. Sam ist so aufgeweckt, er durchschaut zu viel.«
    »Aber du hast es ihnen gesagt?«
    »Soviel sie wissen müssen. Und das ist wahrscheinlich alles, was es zu sagen gibt.«
    Simon ging zum Kühlschrank und fand eine Flasche Weißwein.
    »Nein«, sagte Cat, »für mich nicht. Jetzt gerade nicht.«
    Er stellte die Flasche zurück und ging an den Wasserkocher. »Sie begreifen nicht alles, aber ich, weißt du«, sagte sie.
    Cat legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sie wirkt älter, dachte Simon, wie Sam. Auch ihr Gesicht hat sich verändert. So etwas passiert, wir rutschen eine oder zwei Sprossen hinunter und kommen nicht wieder hoch. Er wollte sie an sich ziehen.
    »Pfefferminztee«, sagte sie. »Der ist in der blauen Dose.«
    »Wie ist die Operation verlaufen?«
    »Sie haben ziemlich viel von dem Tumor entfernt, aber natürlich können sie ihn nicht ganz herausnehmen – das ist zu gefährlich. Sie haben eine Biopsie gemacht. Es ist ein Astrozytom dritten Grades. Er wird Bestrahlungen bekommen.«
    »Und die werden helfen?«
    Cat sah ihn an, als er ihr den Tee reichte. »Eine Zeitlang.«
    Er setzte sich neben sie. Es gab nichts zu sagen. Plattitüden brachte er nicht über die Lippen.
    »Nimmst du dir weiterhin frei?«
    »O ja, ich muss. Er wird in einer Woche nach Hause kommen, und dann braucht er mich rund um die Uhr. Etwas anderes bleibt mir nicht. Weißt du, wenn Patienten mir gesagt haben, sie könnten nicht begreifen, was ich ihnen gerade mitgeteilt hatte, war mir eigentlich nicht klar, was sie damit meinten. Aber heute Nachmittag habe ich dagesessen und dem Neurochirurgen zugehört, der alles erklärte, und es war Kauderwelsch für mich. Ich konnte es nicht verstehen. Es ging mir nicht in den Kopf. Als ich aus dem Raum trat, stand ich im Flur und wiederholte, was er mir gesagt hatte. ›Ihr Mann hat ein Astrozytom dritten Grades, ich habe entfernt, was ich konnte. Das wird eine Weile den Druck mindern, und er wird zehn Bestrahlungen bekommen. Damit wird er Zeit gewinnen. Aber das ist nur palliativ, verstehen Sie.‹ Ich habe mir das alles tatsächlich laut vorgesagt. Zwei Leute sind an mir vorbeigegangen und …«
    Cat stellte ihre Tasse vorsichtig auf den Tisch und begann zu weinen.
    Cat. Weinte. Simon wusste noch, dass sie geweint hatte, als sie vom Pferd gefallen war und sich den Arm gebrochen hatte, und bei den Beerdigungen – bei Mutters und Marthas. Aber das waren nicht solche Tränen gewesen, keine, die von einer Stelle kamen, an die er nicht heranreichte, Tränen der Verzweiflung, des Schmerzes und der Trostlosigkeit. Er legte ihr die Hand auf den Rücken, als sie sich vorbeugte und in ihre hohlen Hände weinte.
    Chris würde sterben. Cat würde hierbleiben, die Kinder großziehen, schließlich ihre Arbeit wieder aufnehmen. Die Welt würde sich weiterdrehen. Nichts würde sich verändern.
    Alles würde sich verändern. Chris. Er mochte seinen Schwager, war immer gut mit ihm ausgekommen, hatte seine Gegenwart dreizehn Jahre lang als selbstverständlich hingenommen. Chris war unkompliziert. Er liebte sein Leben, liebte seine Familie, erledigte seine Arbeit, konnte eigenwillig sein. Ein normaler Mann. Und jetzt, ein normaler Mann, in dessen Gehirn sich etwas hineinfraß. Lag heute Abend im Krankenhaus, nachdem man ihm den Schädel aufgesägt hatte.
    Der Boden

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