Der Toten tiefes Schweigen
steckenzubleiben oder umkehren zu müssen und dabei kostbare Zeit zu verlieren war das Letzte, was Jane jetzt gebrauchen konnte. Cat hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass jede Minute zählte. »Karin hat nicht mehr lange zu leben«, hatte sie mit ruhiger Stimme gesagt. »Sie hat Metastasen in der Wirbelsäule. Zweimal hat sie deinen Namen erwähnt.«
Der Gegenverkehr wurde langsamer, und zwei Fahrer betätigten die Lichthupe. Direkt vor ihr zuckten Blitze über den Himmel, dann traf sie auf das Wasser, das über die Straßenmitte strömte. Es schoss zu beiden Seiten des Wagens hoch, und sie ging vom Gas, kam hindurch und hinter einigen anderen Autos zum Stehen. Es war halb zwei und fast stockdunkel, die Wolken brodelten.
Sie fragte sich, ob es sicher war, ihr Handy zu benutzen – vorausgesetzt, sie hatte Empfang. Konnte der Blitz in Handys einschlagen? Sie glaubte es nicht, und der Wagen hatte vier Gummireifen, die wahrscheinlich ohnehin die Wirkung zunichtemachen würden. Aber sie hatte keinen Empfang.
Die Straße hatte sich in einen Fluss verwandelt, der unter den Autos hindurchschoss.
Eine halbe Stunde später hatte sich der schlimmste Sturm verzogen, und sie fuhr wieder Richtung Autobahnauffahrt. Die Straße war heimtückisch, Warnlichter drosselten den Verkehr auf dreißig Stundenkilometer, aus denen am Ende ein Schneckentempo wurde. Der Regen peitschte weiter herab. Das Radio gab dringende Warnungen durch, sich nur im äußersten Notfall ans Steuer zu setzen.
Es war Viertel vor drei, und bis Lafferton waren es noch knapp zweihundert Kilometer, vorausgesetzt, es war möglich, den direkten Weg zu nehmen.
Jane dachte an Karin McCafferty, wie sie sie bei ihrer letzten Begegnung erlebt hatte, strahlend vor Wohlergehen und Entschlossenheit, zuversichtlich und stark.
Dann Chris Deerborn. Cat hatte es ihr gesagt, bevor sie aufgelegt hatte. Er hatte einen Hirntumor. Man würde ihn operieren. Danach wüssten sie mehr.
Jane hatte der Äbtissin die nüchternen Einzelheiten wiedergegeben. Karin und Chris würden ab sofort Tag und Nacht in die Gebete der Abtei eingeschlossen.
»Das ist unsere Aufgabe«, hatte Schwester Catherine gesagt. »Deine ist es, zu ihnen zu gehen und ihnen beizustehen.«
Jane hatte damit gerechnet, am späten Nachmittag in Lafferton zu sein, doch die Gewitter hatten ein solches Verkehrschaos verursacht, dass sie noch nach acht unterwegs war und in einem kilometerlangen Stau nur schrittweise vorankam. Das verschaffte ihr Zeit, in der sie beten konnte, aber sie hatte unweigerlich auch Zeit, nachzudenken. Lafferton bedeutete ihr vieles, manches davon war äußerst schmerzhaft. Doch sie hatte dort einige enge Freundschaften geschlossen und hoffte, sie wären von Dauer.
Sie hatte auch Simon Serrailler kennengelernt.
Sie war aus Lafferton geflohen und konnte jetzt zugeben, dass Simon einer der Hauptgründe dafür gewesen war. Simon war wichtig geworden, er war ihr unter die Haut gegangen, in einer Weise, die sie sich noch nicht voll eingestanden hatte.
Der Verkehr stoppte ganz. Sie schaltete den Motor ab und zog ihre Bibel aus dem Handschuhfach. Zu manchen Gelegenheiten, so wie jetzt, entdeckte sie gern die Schriften neu, die sie nicht gut kannte und die bei Gottesdiensten eher selten verlesen wurden.
Das Wort des Herrn erging an mich: Was siehst du, Jeremia? Ich antwortete: Einen Mandelzweig sehe ich.
Sie mochte die Bibel, wenn sie direkt und nüchtern war, wenn es um Alltägliches ging.
Einen Mandelzweig sehe ich.
Da spielte es kaum eine Rolle, was man glaubte oder nicht.
Eine Stunde später las sie noch immer, sah hin und wieder auf, und inzwischen hatte sie ein Notizbuch gefunden und kritzelte Kommentare zum Text.
Als die Rücklichter des Wagens vor ihr rot aufleuchteten und er sich in Bewegung setzte, war sie erleichtert, nicht nur den ganzen Jeremia gelesen, sondern auch, sich Simon Serrailler gründlich aus dem Kopf geschlagen zu haben.
Er fiel ihr wieder ein, als sie weiterfuhr, endlich weg vom Verkehr auf Nebenstraßen und Abkürzungen, um Zeit gutzumachen. Sie versuchte, ihn sich vorzustellen. Groß. Weißblondes Haar. Lange Nase. Doch das Gesicht wollte sich nicht zusammenfügen, Simon schwebte irgendwo, schattenhaft und vage. Warum wollte sie sich an sein genaues Aussehen erinnern?
Sie schaltete das Autoradio ein und geriet in eine Diskussion über chinesische Säuglinge, die auf dem Land ausgesetzt werden. Die Geschichte hatte biblische Dimensionen.
Sie
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