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Der Totengarten

Der Totengarten

Titel: Der Totengarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Pelecanos
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anderen Seite an einen Wald aus Ahorn, Eichen und Kiefern grenzte. Wenn sie stark genug dazu wäre, würde sie davonlaufen in diesen Wald. Doch sie fand nicht den Mut, und so blieb sie, wo sie war, und rieb nervös ihre Hände.

    Gus Ramone saß im Leo’s und trank ein Beck’s, sein Notizbuch vor sich auf dem Tresen. Es kam selten vor, dass er nach der Arbeit nicht direkt nach Hause zu seiner Familie ging. Er mochte dieses Lokal und die etwas seltsame Klientel aus dem Viertel. Das war ein Grund dafür, dass er hergekommen war. Außerdem war ihm nicht danach, schon nach Hause zu gehen. Er würde mit Diego reden müssen. Aber im Augenblick konnte er sich noch nicht dazu durchringen, ihm zu erzählen, was er über Asa herausgefunden hatte.
    Zwei Männer neben ihm redeten über den Song, den die Jukebox gerade spielte. Sie sangen den Refrain mit, und als die nächste Strophe begann, setzten sie die Diskussion fort.
    »›Closed for the Season‹«, sagte der Erste. »Brenda Holloway.«
    »Das ist Bettye Swann«, widersprach der Zweite. »Brenda Holloway hat diesen Song geschrieben, den Blood, Sweat and Tears zum Hit gemacht haben.«
    »Von mir aus kann sie auch einen für Pacific Gas and Electric geschrieben haben. Jedenfalls ist das Brenda, die da singt.«
    »Bettye Swann. Und wenn das nicht stimmt, küss ich deinem Hund die Rosette.«
    »Wie wär’s, wenn du mir meine küsst?«
    Ramone trank das kühle Bier aus der Flasche. Seine Gedanken kreisten um Asas Tagebuch.
    Jetzt bestand kein Zweifel mehr an der Todesursache. Asas letzter Tagebucheintrag stammte vom Tag seines Todes und war ein regelrechter Abschiedsbrief. Er konnte die Erwartungen seines Vaters nicht erfüllen. Er hasste seinen Vater und liebte ihn zugleich. Er war überzeugt, dass er bereits schwul zur Welt gekommen war, und ebenso überzeugt, dass sich an seinen Neigungen nie etwas ändern würde. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, wie sein Vater reagieren würde, wenn er es erführe. Er wollte nicht daran denken, wie er seinen Freunden dann gegenübertreten sollte. Asa konnte nicht mehr damit leben, der zu sein, der er war. Er betete, Gott möge ihm den Mut geben, den Abzug zu drücken, wenn der Moment gekommen war. Er kannte einen ruhigen Ort, an dem er es tun konnte. Er wusste, woher er eine Waffe bekam. Der Tod würde eine Erlösung sein.
    Die Passagen in dem Tagebuch, die Details über Asas homosexuelle Erfahrungen enthielten, hatten Ramone erschüttert. Asa hatte zuerst mit Telefonsex experimentiert und dann, über Internet und Anzeigen in alternativen Lokalblättern, Treffen mit Männern an zuvor vereinbarten Orten in seiner Nähe arrangiert, zuletzt regelmäßig mit einem Mann, der erheblich älter war als er selbst und den er nur als RoboMan bezeichnete. Asa schrieb, dieser Mann sei ganz verrückt nach ihm. Über seine eigenen Gefühle äußerte sich Asa nicht, er schilderte hauptsächlich den körperlichen Aspekt ihrer Beziehung. Sie hatten Oral- und Analverkehr gehabt. Es gab keinerlei Hinweise auf Zwang oder Vergewaltigung. Ramone musste davon ausgehen, dass der Sex einvernehmlich gewesen war. Aber einvernehmlich hin oder her, in Anbetracht von Asas Alter war er auf keinen Fall legal gewesen.
    Ramone schlug sein Notizbuch auf und las die Aufzeichnungen, die er während seiner Gespräche mit potenziellen Zeugen und Personen aus Asas Umfeld gemacht hatte.
    RoboMan.
    RoboCop war das Erste, was Ramone dazu einfiel. Konnte Dunne Asas Liebhaber gewesen sein, der Polizist, dem er am Tatort begegnet war? Derselbe Officer, den Holiday in der Nacht, bevor er Asas Leiche entdeckte, an dem Garten hatte vorbeifahren sehen?
    Dann fiel Ramones Blick auf eine Notiz, die er erst am Vortag gemacht hatte.
    »Defensiv«, murmelte er; seine Stimme ging in Bettye Swanns Gesang und der sanften Blasmusik aus der Jukebox unter.
    Er hob einen Finger, um den Barkeeper auf sich aufmerksam zu machen, und bestellte noch ein Bier.
    Er würde noch eine Weile hier im Leo’s sitzen und dieses Bier ganz langsam trinken. Der nächste Punkt, den es zu klären galt, war die Waffe.

FÜNFUNDDREISSIG
    Raymond Benjamin hielt hinter dem Maxima an der Hill Road und wartete auf Michael Tate und Ernest Henderson. Er hatte Henderson am Telefon gesagt, dass er in der Nähe war, und Anweisung gegeben, er und Tate sollten ihre Pistolen mitbringen und zu ihm in den Wagen steigen, wenn er eintraf. Er sah sie auf sich zukommen; Henderson mit selbstbewusstem Gang und bereit für eine

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