Der Totengarten
oder unten in Charles County, wenn sie nicht sogar ganz aus der Gegend weggezogen waren. Gelegentlich lief er noch dem einen oder anderen über den Weg, Schwarzen, mit denen er auf der Eleanor Roosevelt High gewesen war und die jetzt Familie hatten, und das war cool. Man unterhielt sich ein paar Minuten lang, holte zwanzig Jahre in einem kurzen Gespräch nach und trennte sich dann wieder. Bekannte mit gemeinsamen Erinnerungen, aber keine Freunde. Sicher, da waren noch seine Frauen. Er hatte schon immer ein Talent dafür gehabt, Fremde aufzureißen. Aber neben keiner von denen hätte er morgens in seinem Bett aufwachen wollen. Seine Nächte verliefen ebenso bedeutungslos wie seine Tage.
Heute Nachmittag hatte Dan Holiday einen Mann namens Seamus O’Brien gefahren, der mit seinen Gewinnen aus einem Start-up Ende der 90er ein NBA-Team gekauft hatte. O’Brien war nach Washington gekommen, um sich mit Politikern zu treffen, die seine Wertvorstellungen teilten, und auch, um sich mit Schülern einer Vertragsschule östlich des Anacostia River fotografieren zu lassen. Er hatte ihnen signierte Poster von einem seiner Spieler mitgebracht, einem Shooting Guard, der Absolvent der Eastern High war. O’Brien würde diese Kinder nie wiedersehen und keinen weiteren Anteil an ihrem Leben nehmen, aber ein Foto von ihm mit einer Gruppe strahlender schwarzer Kinder würde ihm das Gefühl geben, mit der Welt im Reinen zu sein. Außerdem würde es sich an der Wand seines Büros gut machen.
Holiday hatte zugehört, wie der Mann auf dem Rücksitz seines Town Car über Bildungsgutscheine sprach, über das Schulgebet und sein Bedürfnis, die Kultur der Nation zu beeinflussen, denn was sei Geld schon wert, wenn man es nicht dazu verwende, Gutes zu tun? Immer wieder erwähnte er den Herrn und seinen persönlichen Erlöser Jesus Christus. Holiday hatte beflissen das Satellitenradio auf The Fish eingestellt, einen christlichen Erwachsenensender, doch nach einem Lied hatte O’Brien gefragt, ob er nicht auf Bloomberg News umschalten könne.
Das war sein Tag gewesen. Er hatte einen reichen Mann von Termin zu Termin gefahren, draußen auf ihn gewartet und ihn schließlich wieder zum Flughafen gebracht. Er hatte eine nette Stange Geld verdient, aber sonst nichts erreicht. Deshalb sprang er morgens beim Aufwachen nie mehr aus dem Bett wie früher, als er noch bei der Polizei war. Damals hatte er es nicht erwarten können, zur Arbeit zu gehen. Jetzt hatte er einen Job, der ihm absolut egal war; es war, als ob der Kilometerzähler nur immer weiterlief, eine Fahrt ohne Ziel, vergeudete Zeit.
Holiday nahm seinen Drink und die Zigaretten und setzte sich auf seinen Balkon. Von dort aus hatte man Ausblick auf den Parkplatz und auf die Rückseite des Supermarkts in der P. G. Plaza Mall. Irgendwo stritten ein Mann und eine Frau, und als mehrere Autos langsam auf den Parkplatz rollten, ließ ein hämmernder Bass die Fensterscheiben klirren, und ein Rap setzte ein, als andere Autos vorbeifuhren, und aus den offenen Fenstern wieder anderer Fahrzeuge drangen Call and Response, die Synthesizer und die Percussion von Go-go.
Die Musik erreichte Holiday, aber sie berührte ihn nicht und drang auch nicht in das Szenario ein, das sich in seinem Kopf abspielte. Er dachte an einen Mann, der sich bestimmt für den toten Teenager in dem Gemeindegarten an der Oglethorpe interessierte. Holiday trank einen Schluck und fragte sich, ob dieser Mann wohl noch lebte.
Ramone und Regina aßen zu Abend und teilten sich eine Flasche Wein, und als sie leer war, öffneten sie ganz gegen ihre Gewohnheit noch eine zweite. Die beiden sprachen viel über den Tod von Diegos Freund, und irgendwann weinte Regina, nicht nur wegen Asa und seinen Eltern, denen sie auch gar nicht besonders nahestand, sondern weil sie daran dachte, wie ganz und gar endgültig und verheerend es wäre, eines ihrer eigenen Kinder so zu verlieren.
»Der Herr sollte mich dafür strafen, dass ich derart egoistisch bin«, sagte Regina, während sie sich die Tränen abwischte, und brachte ein verlegenes Lachen heraus. »Aber ich habe einfach Angst.«
»Das ist ganz normal«, erwiderte Ramone. Er erwähnte nicht, dass er selbst ebenfalls um seine Kinder fürchtete, und zwar täglich.
Im Bett küssten sie sich und hielten einander in den Armen.
»Gott weint«, sagte Ramone.
»Was?«
»Das hat Terrance Johnson gesagt. Wir standen im Garten hinter seinem Haus, und es hatte angefangen zu regnen. Kannst du dir das
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