Der Totenleser
konnten wir problemlos rekonstruieren, was während der autoerotischen Betätigung von Christian Blank so gründlich schiefgelaufen war: Christian Blank hatte die Schlinge der Hundeleine so an dem Haken befestigt, dass sie in etwa 1,30 Meter Höhe unter der Zimmerdecke hing, genau vor der verspiegelten Front seines Kleiderschrankes. Kniend legte sich der knapp 1,80 Meter große Mann die Schlinge um seinen Hals. Damit die Schlinge sich fester zuzog, musste er seinen Oberkörper neigen, wahlweise vor-, rück- oder seitwärts. Vielleicht war ihm der »Kick« des Sauerstoffmangels nicht stark genug, oder vielleicht waren seine kognitiven Funktionen durch den Sauerstoffmangel auch schon zunehmend vernebelt. Jedenfalls steckte er sich während der Prozedur irgendwann den eigentlich zur Analdehnung vorgesehenen Gummiball in den Mund und pumpte ihn auf. Damit tamponierte er sich den Rachen regelrecht aus, bis die Atmung über Mund oder Nase unmöglich wurde. Die sofort eintretenden Erstickungsgefühle müssen ihn in Panik versetzt haben. Zum Ablassen der Luft über den Ventilmechanismus des Blasebalgs blieb ihm keine Zeit, also zog er an dem Gummischlauch. Doch statt damit den Ball aus dem Mund zu ziehen, riss er nur den Schlauch samt Schraubgewinde heraus. Wenige Sekunden später war der Punkt erreicht, an dem der Sauerstoffmangel in seinem Gehirn zu einer schlagartigen Bewusstlosigkeit führte. Damit wurden jegliche Selbstrettungsversuche unmöglich. Auch von den Muskelkrämpfen während des Todeskampfes bekam Christian Blank nichts mehr mit.
Die eigentlichen Obduktionsbefunde bestätigten den Tod durch Erhängen: massiv überblähte Lungen, punktförmige Einblutungen auch im Lungenfell beider Lungenflügel sowie Blutungen unter dem vorderen Bandapparat der Lendenwirbelsäule. Letztere entstehen nur bei vitalem Erhängen.
Als ich Unterhautfettgewebe und Muskulatur der Oberarme freilegte, zeigten sich dort keine frischen Hämatome, wie sie zu erwarten gewesen wären, hätte jemand den Bewusstlosen oder Getöteten gepackt, um mit Hilfe der Hundeleine einen Suizid durch Erhängen vorzutäuschen. Auch fanden wir keine äußeren Verletzungen, die auf ein Kampfgeschehen vor dem Tode hingedeutet hätten. In den später im Labor untersuchten Abstrichen aus Mund und Anus konnten wir weder Sperma noch Fremd-DNA nachweisen, so dass sich auch hierbei keine Anhaltspunkte für die Anwesenheit eines weiteren Sexualpartners ergaben.
Nach rechtsmedizinischen Studien ereignen sich in Deutschland jährlich etwa sechzig bis achtzig tödliche autoerotische Unfälle. Allerdings ist das eine aus rechtsmedizinischen Obduktionsstatistiken abgeleitete Hochrechnung. Die wirkliche Anzahl liegt wahrscheinlich weitaus höher, da die Dunkelziffer nicht abschätzbar ist. Das Thema ist einfach zu sehr mit Scham besetzt. Die meisten Menschen, die einen Freund oder Angehörigen nach einem autoerotischen Unfall finden, reagieren nicht wie Georg Blank, der sofort die Polizei verständigt hatte. Nicht selten werden aus Scham und Angst vor Gerede zunächst Veränderungen am Leichenfundort vorgenommen, um das Geschehene zu verheimlichen. Manchmal wird nicht nur jegliches Strang-oder Fesselwerkzeug entfernt, sondern der Tote auch in eine ganz andere Position oder gar in einen anderen Raum gebracht. In der rechtsmedizinischen Literatur sind zahlreiche Fälle beschrieben, bei denen Angehörige den Toten zwar nicht aus dem Strangwerkzeug genommen, ihm aber die Reizwäsche ausgezogen hatten. Ich selbst kenne einen Fall, bei dem der Sohn des bei einem autoerotischen Unfall Gestorbenen versuchte, das Geschehene als sexuell motiviertes Tötungsdelikt aus sehen zu lassen. Dabei scheiterte die Umsetzung aber an der Durchführung, denn Rechtsmediziner und Mordkommission haben immer einen entscheidenden Vorteil: Kaum ein Mensch weiß, wie der Tatort bei einem echten sexuell motivierten Tötungsdelikt im Detail aussieht. Entsprechend schnell offenbaren sich die Fehler, die sich aus diesem Unwissen zwangsläufig ergeben, weshalb kein Profi auf eine solche falsche Fährte hereinfällt.
Angehörige oder andere Personen, die den Verstorbe nen finden, vermuten dagegen nicht selten ein Tötungsdelikt. Das ist nur allzu verständlich. Zum einen wird die Neigung zu autoerotischer Betätigung fast immer vor dem persönlichen Umfeld geheim gehalten, zum anderen mutet die Szenerie nach einem autoerotischen Unfall für Nichteingeweihte naturgemäß bizarr und befremdlich an.
Das
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