Der Totenleser
Eltern und (neuem) Freund zu verheimlichen, angeblich ohne dass auch nur jemand Verdacht schöpfte.
Während ich im Gerichtssaal saß und mir die Geschichte anhörte, musste ich mich zusammenreißen, nicht unentwegt den Kopf zu schütteln. Ganz unabhängig von den persönlichen Aussagen der Angeklagten und der völlig unbeteiligten, emotionslosen Art, in der sie diese machte, war das, was wir alle im Gerichtssaal zu hören bekamen, eine Geschichte unfassbarer Vernachlässigung – fürsorgliche Eltern übersehen ganz sicher keine Schwangerschaft ihrer Tochter, und erst recht nicht drei Mal in fünf Jahren.
Auch diesmal gelangte der psychiatrische Gutachter zu der Einschätzung, dass die Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat nur vermindert schuldfähig war. Die Verteidigung erinnerte zudem daran, dass keine Wiederholungsgefahr bestand, da die angeklagte Janina Leistner sich nach ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft noch vor Prozessbeginn freiwillig hatte sterilisieren lassen. Das Gericht berücksichtigte beides und verurteilte Janina Leistner wegen Totschlag in einem minderschweren Fall zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. In der Urteilsbegründung hieß es unter anderem: »Bei Anwendung des Strafrahmens aus § 213 StGB hat die Kammer zugunsten der Angeklagten berücksichtigt, dass sie sozialisations bedingt den Schwangerschaften und Geburten nicht freudig entgegensehen und sich demgemäß verhalten konnte (…) Positiv war auch zu werten, dass die Angeklagte nach der Tat Einsicht in ihr Fehlverhalten gezeigt und durch die Sterilisation ausgeschlossen hat, dass es zu weiteren vergleichbaren Vorfällen kommen kann (…).«
Die Urteilsbegründung machte mich sprachlos – nach meinem Verständnis ist der Begriff »Fehlverhalten« für die Tötung zweier gesunder Neugeborener ein vollkommen unangebrachter Euphemismus. Auf der anderen Seite konnte und mochte ich mir aber auch nicht vorstellen, mit Eltern aufgewachsen zu sein, für die das eigene Kind nur lästig ist. Und deshalb bin ich nach wie vor froh darüber, dass mir als Rechtsmediziner lediglich die Aufgabe zukommt, naturwissenschaftliche Belege und Beweise für oder gegen eine Tatversion zu sammeln und nicht Recht sprechen zu müssen.
Anders als im Fall Janina Leistner weiß im Fall Corinna Joosten niemand Näheres über die Hintergründe. Vieles wird rätselhaft bleiben, ihre Geschichte wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet:
Was bewegte sie dazu, ihre Schwangerschaften vor ihren jeweiligen Lebensgefährten zu verheimlichen? Wann, wo und unter welchen Umständen brachte sie ihre Kinder zur Welt? War sie wieder schwanger, als sie sich in die Tiefe stürzte?
In der Welt, in der Corinna Joosten nicht zurechtkam und die sie freiwillig verließ, war auch für ihre Babys kein Platz. Brachte sie ihre Kinder alleine, völlig unbemerkt von ihrem persönlichen Umfeld zur Welt? Haben ihre Kinder gelebt? Und wenn ja, tötete sie sie gezielt oder ließ sie die Babys einfach unversorgt irgendwo in ihrer Wohnung liegen, bis sie starben?
Und was mochte Corinna Joosten dabei empfunden haben?
Was mir auch nach vielen Berufsjahren als Rechtsmediziner immer noch unbegreiflich ist, nicht nur in Fällen von Neugeborenentötungen, sondern auch, wenn es um jahrelang misshandelte Kinder oder überhaupt Opfer häuslicher Gewalt geht, die ich untersuchen muss: Wie kann es sein, dass von derartigen Geschehnissen, die sich meist über einen langen Zeitraum hinweg angebahnt haben, niemand in der Familie oder dem Freundeskreis oder der Nachbarschaft etwas mitbekommen haben will?
GewichtigeBergung
Falls Sie in Berlin wohnen oder hier einmal zu Besuch sind und einen Transporter mit der Aufschrift »Gerichtsmedizin« auf Motorhaube und Heck entdecken, können Sie sich die Fracht denken. Womit Sie sich immer beruhigen können: Vielleicht ist er ja (noch) leer.
Bei uns in Berlin haben wir drei solche geschlossenen Leichentransporter, ein vierter ist bestellt. Der wird dann auch nicht mehr grün sein, sondern wie die neuen Fahrzeuge der Polizei blau mit Silbergrau. Jeder der Transporter hat vier Bahren, die sich herausnehmen lassen. Dadurch können nicht nur mehrere Opfer eines Verbrechens gleichzeitig transportiert werden, sondern auch Verstorbene von verschiedenen Fundorten, was besonders in einer großen Stadt wie Berlin von Vorteil ist. Eine Kühlung ist wegen der relativ kurzen Wege nicht nötig, doch gibt es eine Entlüftung im Dach.
Pro
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