Der Totenleser
Jahr werden in der Bundeshauptstadt von unserem Fahrdienst durchschnittlich 2500 Leichen transportiert. Die Fahrer rücken zwischen drei- und zehnmal pro Schicht aus. Eine spezielle Ausbildung braucht man für den Job nicht, was aber nicht heißt, dass jeder geeignet wäre. Für eine Bewerbung benötigen Sie auf jeden Fall einen Führerschein Klasse 3 und eine »weiße Weste«, also ein Führungszeugnis ohne Vorstrafen. Zudem ist neben der Fähigkeit, am Leichenfundort der Situation gemäß aufzutreten, auch körperliche Fitness gefragt, denn nicht überall, wo Leichen gefunden werden, gibt es einen Aufzug.
Und manchmal geraten auch die besttrainierten Fahrer an ihre Grenzen.
Vier Jahre bevor Leonardo DiCaprio als Jack Dawson mit der Titanic unterging und zehn Jahre bevor Johnny Depp als Pirat Jack Sparrow den Fluch der Karibik am eigenen Leib erfuhr, spielten die beiden Schauspieler 1993 in dem Film Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa zwei Brüder: Gilbert (Depp) kümmert sich nach dem Suizid des Vaters um den jüngeren und geistig behinderten Arnie (DiCaprio). Doch um diese beiden geht es hier nicht. Mir geht es um die Mutter, Bonnie Grape, die seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr das Haus verlassen hat. Auch vom Sofa erhebt sie sich selten, denn mit ihren über 250 Kilo ist sie ohnehin nicht in der Lage, irgendwelche Hausarbeiten zu verrichten. Am Abend von Arnies achtzehnten Geburtstag beschließt sie zur Feier des Tages, die Nacht in ihrem Bett in der oberen Etage zu verbringen. Zwar schafft sie es unter allergrößten Mühen nach oben, doch diese Strapazen überlebt sie nicht.
Statt einen Arzt zu rufen, der den Totenschein ausstellt – als Todesursache hätte er sehr wahrscheinlich »Herzversagen« oder »Lungenembolie« eingetragen –, macht Gilbert sich Sorgen über den Abtransport seiner extrem übergewichtigen Mutter: Vielleicht müsste man die Tote mit einem Kran aus der oberen Etage hinunterhieven, und die ganze Nachbarschaft würde zusehen. Gilbert will sie aber nicht der Lächerlichkeit preisgeben, deshalb fasst er einen ungewöhnlichen Entschluss: Gemeinsam mit seinen Geschwistern räumt er das Mobiliar aus dem Haus und brennt das Gebäude nieder.
Eine drastische Maßnahme, zu der im wahren Leben sicherlich kaum jemand greifen wird, zumindest nicht, wenn es sich wie hier um den natürlichen Tod eines engen Familienmitgliedes handelt. Bei Tötungsdelikten, die der Täter durch Brandstiftung verdecken möchte, kommt so etwas dagegen durchaus vor.
Nichtsdestotrotz – die Gedanken, die Gilbert Grape sich um die Bergung seiner Mutter gemacht hat, sind durchaus berechtigt, wie die folgenden zwei Beispiele zeigen.
Der 31-jährige Thorsten Kaiser war von seiner Mutter, die ihn regelmäßig mit den Dingen des täglichen Bedarfs und ganz besonders mit Lebensmitteln versorgte, tot im Bett seiner Berliner Einzimmerwohnung aufgefunden worden. Ähnlich wie Bonnie Grape hatte er aufgrund seines extremen Übergewichts die Wohnung seit vielen Jahren nicht mehr verlassen und sein Leben überwie gend im Bett liegend vor dem Fernseher verbracht. Bei seinem Tod wog Thorsten Kaiser 290 Kilogramm. Der von der Mutter hinzugerufene Arzt hatte nach der Leichenschau vor Ort auf der Todesbescheinigung (der Begriff »Leichenschauschein« wird übrigens synonym verwendet) das Feld »Todesursache« frei gelassen und als Todesart »ungewiss« angekreuzt. Das hieß, dass sich bei der Leichenschau keine objektiven Befunde ergeben hatten und dem Arzt nicht hinreichend Informationen zur medizinischen Vorgeschichte des Verstorbenen vorlagen, um festzustellen, woran der Mann gestorben war. Es konnte sich also sowohl um einen Tod aus natürlicher Ursache als auch um eine Vergiftung oder einen spurenarmen gewaltsamen Tod handeln. In Fällen, in denen die Todesart als »ungewiss« klassifiziert wird, ist der Arzt entsprechend dem Bestattungsgesetz verpflichtet, die Leichenschau abzubrechen, den Leichnam und Leichenfundort nicht weiter zu verändern und die Polizei zu informieren.
Da auch die polizeilichen Ermittlungen vor Ort keine wesentlichen Erkenntnisse zu den möglichen Todesumständen des Mannes ergeben hatten, entschied man sich dafür, den Leichnam zur Obduktion ins Institut für Rechtsmedizin zu bringen. Meine Kollegen fanden dann bald die tatsächliche Todesursache – in Form eines unzerkauten Fleischbrockens. Das Stück Frikadelle war größer als die schwedischen Fleischbällchen, die berühmten Köttbullar, die man bei
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