Der Totenleser
ausgelöst und dadurch ihren Tod verursacht.
Daraufhin wurde das Urteil gegen Hermann von Dielingen von Todesstrafe wegen Mordes in eine zweijährige Haftstrafe wegen Körperverletzung mit Todes folge abgeändert.
Auf einen ebensolchen Verfahrensausgang – ein deutlichgeringeres Strafmaß, indem das Gericht statt auf Mord auf Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge entschied – zielte auch der mit einem möglichen »Reflextod« begründete Revisionsantrag des Verteidigers im Fall Wladimirowitsch ab. Aus Sicht des Angeklagten war ich also hier im Gerichtssaal, um ihn zu entlasten. Deshalb wunderte es mich auch nicht, dass Aleksej Wladimirowitsch sich von der ersten Minute an immer wieder in meine Richtung umdrehte. Auch wenn unsere Blicke sich nie trafen, wenn ich zu ihm hinüber auf die Anklagebank sah, hatte ich das Gefühl, dass er mich unentwegt anstarrte, während ich zuhörte, wie der Staatsanwalt zu Beginn der Verhandlung die Anklageschrift verlas.
Dabei würde es noch eine Weile dauern, bis ich an der Reihe war, direkt vor der Richterbank an dem kleinen Tisch zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft Platz zu nehmen und den Anwesenden meine Sicht der Dinge zu schildern. Bevor es so weit war, mussten noch mehrere Zeugen gehört werden, darunter Polizeibeamte und der bereits verurteilte Mittäter, Ustin Kolesnikow.
Erst einmal erhob sich der Verteidiger, um eine 18-seitige schriftliche Erklärung seines Mandanten zu verlesen. Darin räumte der Angeklagte die Anklagevorwürfe in Teilen ein und betonte ausdrücklich, dass er das, was geschehen war, zutiefst bedauere. Gleichzeitig sehe er sich aber auch selbst in der Rolle eines Opfers. Seine Auftraggeber hätten ihn mit der Drohung, seine in Weißrussland lebende Frau und Kinder zu töten, dazu gezwungen, Ino Jungmann »in die Mangel zu nehmen«. Er habe keine andere Möglichkeit gesehen, als ihrer Forderung nachzukommen. Wladimirowitsch betonte erneut, er habe nie die Absicht gehabt, Jungmann zu töten. Das zeigten ja auch die fehlenden Drosselmerkmale.
Bevor es an die Zeugenbefragung ging, stellte der Verteidiger einen »Beweisantrag«. Nach der Strafprozessordnung können Angeklagter, Verteidiger, Staatsanwaltschaft und Nebenkläger in der Hauptverhandlung eigene »Beweisbehauptungen« einbringen. Wladimirowitschs Anwalt beantragte, das Gericht solle durch mich als rechtsmedizinischen Sachverständigen seine Behauptung überprüfen lassen, dass Ino Jungmann an einem reflektorischen Herzstillstand gestorben sei und nicht etwa durch Erdrosseln. Diesem Beweisantrag schloss sich das Gericht an.
Als erste Zeugen waren drei Männer aus dem privaten Umfeld des Opfers Ino Jungmann an der Reihe – die jedoch allesamt wenig Erhellendes zu dem persönlichen Verhältnis von Wladimirowitsch zu Jungmann beizutragen hatten. Auch Kolesnikows Aussage und die des Bekannten, den Wladimirowitsch damals um ein Alibi gebeten hatte, brachten keine neuen Erkenntnisse. Allerdings fand ich es interessant, den damaligen Mittäter im Zeugenstand zu beobachten, der fahrig und nervös wirkte, obwohl er doch seine Haftstrafe mittlerweile verbüßt hatte. Mir dämmerte schnell, warum. Im Beisein von Wladimirowitsch war dessen geständigem Komplizen sein erneuter Auftritt als Zeuge und die Verlesung seiner damaligen ausführlichen Aussagen zum Tathergang sichtlich unangenehm. Zum einen vermied er es peinlichst, zur Anklagebank hinüberzusehen, um ja nicht den Blicken von Wladimirowitsch zu begegnen, zum anderen tat er mehrfach sehr erstaunt über das, was damals protokolliert worden war. Auf die Nachfragen durch den Vorsitzenden Richter räumte er jedoch jedes Mal kleinlaut ein, dass die damals gemachten Aussagen zutreffend seien und der Wahrheit entsprächen.
Im Anschluss erzählten die Schutzpolizisten, die damals als Erste zum Leichenfundort gerufen worden waren, wie der Notarzt um Hals und Nacken des Toten bandförmige Hautabschürfungen und Blutungen entdeckt hatte, die immer wieder von intakten Hautstellen unterbrochen waren, und deshalb sofort der Verdacht aufkam, der Mann könnte stranguliert worden sein. Woraufhin die Kriminalpolizei eingeschaltet worden war und die gesamte Ermittlungs- und Untersuchungsmaschinerie inklusive Spurensicherung, Staatsanwaltschaft und Rechtsmedizin angelaufen war.
Die gespannte Erwartung beim Angeklagten nahm spürbar zu, als quasi zur Vorbereitung meines Auftritts als Obergutachter der in den Fall involvierte Rechtsmediziner als
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