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Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos
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hinreichend erachteten, gingen sie auf die fehlenden Drosselmerkmale nicht weiter ein.
    Und genau diesen Umstand monierte der Verteidiger später in seiner Revisionsbegründung. Die entsprechenden Obduktionsbefunde waren seiner Ansicht nach ein Beleg dafür, dass Ino Jungmann nicht erdrosselt worden sein konnte. Vielmehr müsse der Tod durch Reizung bestimmter Nervenpunkte am Hals durch das versehentlich hochgerutschte Seil eingetreten sein. Ein solcher »Reflextod« – Näheres dazu später – hätte sein Mandant unmöglich vorhersehen können. Diese Zusammenhänge seien im ersten Verfahren nicht ausreichend gewürdigt worden, deshalb müsse in einer zweiten Verhandlung ein unabhängiger rechtsmedizinischer Gutachter prüfen, ob nicht ein Reflextod als Todesursache in Frage komme.
    Dieser Einschätzung schloss sich der zuständige Strafsenat des Bundesgerichtshofs an und gab der beantragten Revision statt.
    Damit war auch klar, dass bei der zweiten Verhandlung die Obduktionsergebnisse die Hauptrolle spielen würden.
    Während ich in Vorbereitung der Gerichtsverhandlung die mir zugesandten Unterlagen studierte, dachte ich spontan an den eingangs erwähnten Mr. Spock. Schließlich hatte ich als Kind in den Siebzigerjahren keine Folge von Raumschiff Enterprise , wie die Serie damals im deutschen Fernsehen noch hieß, verpasst und daher oft genug beobachtet, wie der Vulkanier seine Gegner mit einem gezielten Griff an den Nacken leblos zu Boden sacken ließ. Ähnliche Reaktionen sieht man immer wieder in Actionfilmen und speziell in der asiatischen Martial-Arts-Variante: Eben noch munter kämpfend auf den Beinen, liegen Männer wie Frauen nach einem Handkantenschlag gegen den Hals plötzlich wie tot am Boden.
    Aber konnte man auf diese Weise sterben? Und konnte ein solcher »Reflextod« auch durch ein fest um den Hals zugezogenes Seil ausgelöst werden?
    Genau diese Frage sollte ich in der Gerichtsverhandlung klären.
    Thema in der Rechtsmedizin ist der reflektorische Herztod (»Reflextod«) durch einen Angriff gegen den Hals seit knapp neunzig Jahren, als erstmals in der deutschen Justizgeschichte dessen Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit im »Fall von Dielingen« diskutiert wurde.
    Hermann von Dielingen war im Mai 1926 vom Schwurgericht Osnabrück wegen Mordes zum Tode verurteilt worden. Das Gericht hatte es zunächst als erwiesen angesehen, dass er seine im achten Monat schwangere Geliebte, Emma Hoge, erdrosselt und dann in einen Wassergraben geworfen hatte. Von Dielingen hatte in einem ersten Geständnis ausgesagt, er habe sie an ihrem Halstuch gepackt und dieses Tuch fest zusammengezogen. Sie habe noch ein paar Mal »gestrampelt«, dann sei sie »ruhig liegen geblieben«. Anschließend habe er sie in den Wassergraben geworfen, um einen Suizid der jungen Frau vorzutäuschen. Später widerrief der Beschuldigte diese Darstellung und gab in einem zweiten Geständnis zu Protokoll, er habe »nur einmal fest an dem Tuch gezogen«, woraufhin sie »sofort zusammengebrochen« sei.
    Obwohl bei der Obduktion von Emma Hoge weder eine Drosselmarke noch sonst irgendwelche Zeichen eines Angriffes gegen den Hals der jungen Frau festgestellt worden waren, lautete die Anklage auf Erdrosseln. Der Grund dafür: Aus dem Umstand, dass bei der Obduktion von Emma Hoge keine Ertrinkungszeichen festgestellt worden waren, hatte der rechtsmedizinische Gut achter damals geschlossen, dass sie bereits tot gewesen sein müsse, als von Dielingen sie ins Wasser geworfen habe. Zudem spreche das Fehlen von Strangulationsmerkmalen nicht zwangsläufig dagegen, dass Emma Hoge per Erdrosseln stranguliert worden war. Zumal die Obduktionsbefunde im Zusammenhang mit dem ersten Geständnis des Angeklagten gesehen werden müssten, wonach dieser die junge Frau mit dem von ihr zu diesem Zeitpunkt um den Hals getragenen Halstuch erdrosselt habe.
    In einem daraufhin von der Verteidigung eingeholten Gegengutachten eines anderen rechtsmedizinischen Sachverständigen gelangte dieser zu dem Schluss, dass ein Tod durch Erdrosseln aufgrund der Obduktionsbefunde nicht zu beweisen sei. Da sich bei der Toten weder eine Drosselmarke noch Verletzungen von Kehlkopf oder Zungenbein gezeigt hätten, könne der vom Beschuldigten eingeräumte Drosselvorgang nur extrem kurz gedauert haben. Der Tod von Emma Hoge müsse daher vielmehr Folge einer »Schockwirkung« sein. Ein einmaliger Druck auf den Hals ohne Tötungsabsicht habe bei Emma Hoge einen reflektorischen Herzstillstand

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