Der Totenleser
Richterspruch beendete, der das Urteil auf »Körperverletzung mit Todesfolge« geändert und die Strafe auf zwei Jahre Haft abgemildert hatte, merkten alle im Gerichtssaal, dass nun der zentrale Teil meiner Ausführungen nahte. Fast hatte ich den Eindruck, als würden manche der Anwesenden regelrecht die Luft anhalten.
Ich wies noch einmal auf die Parallele zum Fall von Dielingen hin: Dass beim Opfer im Fall Jungmann die jeweils zu erwartenden Hinweise auf einen Tod durch Erdrosseln fehlten. Dann erklärte ich dem Gericht die entscheidenden Unterschiede: Zum einen hatte Ino Jungmanns Leiche im Gegensatz zu der toten Emma Hoge sehr wohl Zeichen einer Strangulation aufgewiesen. Die Drosselmarke an der Halsvorderseite und den seitlichen Halspartien, die im Nackenbereich eine Aussparung zeigte, passte zu einem Erdrosseln von hinten, wie es der Mittäter Kolesnikow zum Tathergang geschildert hatte. Zum anderen waren bei der Obduktion von Jungmann schwerste Verletzungen an Kehlkopf und Zungenbein festgestellt worden. Damit lagen hier ähnlich wie bei den tödlichen Folgen des Würgegriffs von US-Polizisten sowie den Kampfsportverletzungen mit tödlichem Ausgang deutliche Begleitverletzungen vor, die den Tod Ino Jungmanns hinreichend erklärten.
Inwiefern es sich beim »Fall von Dielingen« tatsächlich um einen echten »Reflextod« im Sinne der Definition handelte oder bei der hochschwangeren Emma Hoge andere, damals nicht ausreichend in Betracht gezogene Begleiterkrankungen bestanden, die sich mit den damaligen Methoden nicht nachweisen ließen, ist anhand der Prozessunterlagen und Obduktionsbefunde nicht mehr zu klären. Doch was auch immer letztlich zum Tode von Emma Hoge geführt hatte, hatte bei ihr nicht zu massiven Halsverletzungen geführt. Aber genau die lagen bei Ino Jungmann vor, weshalb er auch nicht an einem »Reflextod« gestorben sein konnte.
Den zweiten Beleg, dass keineswegs ein reflektorischer Herzstillstand für den Tod Ino Jungmanns verantwortlich war, hatte der Angeklagte selbst geliefert. Aleksej Wladimirowitsch hatte bereits in der ersten Verhandlung ausgesagt, er habe das Nylonseil, als es um den Hals von Jungmann zu liegen gekommen war, so lange festgehalten und daran gezogen, bis dieser keine Gegenwehr mehr geleistet habe. Richtig platzierter Druck auf die Pressorezeptoren in den Halsschlagadern führt jedoch, wie ich es dem Gericht vom Einsatz des »Carotid Sleeper« beschrieben hatte, innerhalb von Sekundenbruchteilen zur Bewusstlosigkeit. Wenn Jungmann also, wie von Wladimirowitsch selbst geschildert, noch versucht hatte, das Seil von seinem Hals zu lösen, war dies ein eindeutiger Beweis, dass ein Reflexmechanismus hier nicht in Betracht kam. Denn wäre es bei Ino Jungmann zu einem reflektorischen Kreislaufstillstand gekommen, wäre er schlagartig zusammengebrochen und gar nicht mehr in der Lage gewesen, sich zu wehren. Erst recht nicht über die zwei Minuten hinweg, die der Drosselvorgang nach Aussage von Kolesnikow gedauert hatte.
Was den Beweisantrag des Verteidigers von Wladimirowitsch anbelangte, schloss ich zur abschließenden Zusammenfassung meines mündlichen Sachverständigengutachtens die Möglichkeit aus, dass Ino Jungmann an einem »Reflextod« gestorben war.
Der Verteidiger war sich seiner Sache anfangs sehr sicher gewesen, und ich bin überzeugt, dass er wirklich an die Theorie mit dem »Reflextod« geglaubt hatte. So schnell aufgeben wollte er nach meinem mündlichen Gutachten dann aber auch nicht. Wie nicht anders zu erwarten, sprach er bei den anschließenden Nachfragen als Erstes noch einmal das Fehlen charakteristischer Drosselmerkmale an. »Wie erklären Sie es sich, dass sich bei Ino Jungmann weder die üblichen Stauungssymptome noch punktförmige Blutungen fanden? Haben Sie so etwas schon mal gesehen? Spricht das Fehlen solcher Befunde nicht ganz klar dafür, dass er nicht erdrosselt wurde, sondern dass es sich doch um einen Reflextod handelt?«
Als Erwiderung wies ich zunächst darauf hin, dass es immer wieder Fälle gibt, wenn auch äußerst selten, bei denen der Drosselvorgang ganz und gar ohne diese Charakteristika abläuft. Einige davon sind in der Fachliteratur ausführlich dokumentiert. Zur weiteren Erklärung fügte ich noch hinzu, dass beim Erdrosseln neben Vorhandensein oder Fehlen von Stauungssymptomatik und punktförmigen Blutungen auch die Ausprägung der inneren Verletzungen von Kehlkopf und Zungenbein zum Teil erheblich variieren. Ausschlaggebend
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