Der Totenleser
medizinischen Grundlagen solcher Reflexmechanismen erklären: Im menschlichen Körper gibt es an den verschiedensten Stellen die unterschiedlichsten Rezeptoren. Unter Rezeptoren versteht man, vereinfacht gesagt,bestimmte Zellverbände, die auf den Körper einwirkende Reize in biochemische Signale umwandeln und so dem Gehirn Informationen über Art und Intensität des jeweiligen Reizes vermitteln. Beispiele, die jeder aus eigener Erfahrung kennt, sind die Signale von Schmerzrezeptoren oder Thermorezeptoren für Kälte-und Wärmeempfinden. Darüber hinaus befinden sich in den Wänden der menschlichen Halsschlagadern ganz spezielle Rezeptoren, die für die Regulation unseres Blutdruckes und unserer Herzfrequenz verantwortlich sind. Durch Reizung dieser »Pressorezeptoren« (von lat. pressare = drücken) wird die Herzfrequenz reduziert und der Blutdruck abgesenkt. Dadurch wird weniger Blut vom Herzen weggepumpt, das unter anderem das Gehirn mit dem lebenswichtigen Sauerstoff versorgt. Die Funktion der Pressorezeptoren liegt darin, den Blutdruck unter Extrembedingungen so weit zu zügeln, dass er nicht in lebensbedrohliche Höhen gerät. Allerdings reagieren diese Rezeptoren in den Halsschlagadern auch auf Druck von außen, wie aus zahlreichen Tierexperimenten bekannt ist. Zudem wurden vor Jahrzehnten verschiedene Versuchsreihen mit Menschen durchgeführt, die heute allesamt unter ethischen Gesichtspunkten nicht mehr zulässig wären. Dabei führte ein richtig platzierter, kräftiger Druck auf den Hals der Versuchspersonen über eine Verringerung der Herzfrequenz und einen Blutdruckabfall nicht selten zu einer Bewusstlosigkeit. Aber: Bei den »Druckversuchen« an weit über achttausend Personenim Alter zwischen 15 und 95 Jahren kam es nicht zu einem einzigen Todesfall – obwohl diese Versuche zum Teil bei Patienten mit vorbestehenden Herzerkrankungen, also Risikopatienten, durchgeführt wurden.
Auch wenn solche Versuche der Vergangenheit angehören, werden auch heute noch manchmal gezielt die Pressorezeptoren in den Halsschlagadern aktiviert, beispielsweise in den Vereinigten Staaten. Wenn sich Personen gegen ihre Festnahme zur Wehr setzen, wird von US-amerikanischen Polizeikräften manchmal ein als »Carotid Sleeper« bezeichneter Würgegriff eingesetzt, der vom Judo und brasilianischen Jiu-Jitsu übernommen wurde. Hierbei schlingt der Polizeibeamte seinen Arm von hinten um den Hals desjenigen, der ruhiggestellt werden soll, so dass seine Ellenbeuge vorne am Hals des Betreffenden zu liegen kommt. Durch Zug mit dem angewinkelten Arm kann er so kräftigen Druck auf die Halsseiten ausüben, dass der Betreffende innerhalb von Sekundenbruchteilen das Bewusstsein verliert.
Tatsächlich kommt es immer mal wieder vor, dass der Einsatz des Würgegriffs tödlich endet. Doch wurde bisher in keinem der Fälle ein »Reflextod« festgestellt. Vielmehr zeigte sich bei allen durchgeführten Obduktionen eine massive Gewalteinwirkung gegen den Hals, die letztlich zur Strangulation geführt hatte. Todesursächlich war die unsachgemäße Anwendung des Griffes durch minutenlanges Würgen und nicht etwa eine abrupte Reizung der Pressorezeptoren.
Auch in der sportmedizinischen Literatur ist kein einziger »Reflextodesfall« beschrieben, obwohl es gerade bei Kampfsportarten zum Teil zu erheblichen Gewalteinwirkungen gegen den Hals kommt. Auch hier fanden sich in allen diesbezüglichen Verdachtsfällen bei der Obduktion erhebliche Begleitverletzungen an den Halsschlagadern – die waren entweder eingerissen oder gar komplett durchgerissen, was den Tod hinlänglich erklärte.
Natürlich gibt es spezielle Fallkonstellationen, bei denen auch ein abrupter Angriff gegen den Hals, der in Sekundenbruchteilen und ohne zusätzliche Gewalt abläuft, tödlich verlaufen kann. Aber nicht, weil dieser Angriff zu einem Herzstillstand des Opfers führt, sondern weil der Betroffene nach einem Schlag, Griff oder Tritt an den Hals das Bewusstsein verliert und so beispielsweise nicht mehr verhindern kann, dass er ertrinkt oder aus großer Höhe zu Tode stürzt.
Bevor ich wieder auf den Fall Ino Jungmann zu sprechen kam, ging ich zunächst ausführlich auf den einzigen Fall in der Justizgeschichte ein, dessen Urteil auf einem nicht auszuschließenden »Reflextod« basierte, den »Fall von Dielingen«. Bei einem Blick zum Tisch der Verteidigung sah ich, wie sich nach meiner entsprechenden Ankündigung Anwalt und Mandant zunickten. Als ich die Geschichte mit dem
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