Der Totenleser
Sachverständiger gehört wurde, um noch einmal die Resultate seiner Obduktion zusammenzufassen. In seinem Protokoll, das er dem Gericht jetzt vortrug, waren detailliert die vitalen bandförmigen Abschürfungen und Blutungen um den Hals des Toten beschrieben, die im Nackenbereich eine »Aussparung« aufwiesen – was nichts anderes hieß, als dass dort die Haut intakt war. Diese seien ein Beleg für ein Erdrosseln als einzig mögliche Todesursache, da bei der Obduktion weder andere Verletzungen noch Hinweise auf bestehende Krankheiten oder Drogeneinfluss gefunden worden seien. Trotz dieser eindeutigen Interpretation wies auch der rechtsmedizinische Kollege zum Schluss seiner Ausführungen noch einmal ausdrücklich auf den »für ihn unerklärlichen« Umstand hin, dass an der Leiche sowohl die punktförmigen Blutungen in den Augenbindehäuten und der Gesichtshaut als auch die Blutstauung und Schwellung von Gesicht und Halsregion fehlten.
Als der rechtsmedizinische Kollege seine Ausführungen beendet hatte und verschiedene Nachfragen seitens der Richter, des Staatsanwalts und des Verteidigers beantwortet hatte, war es so weit: Der Obergutachter sollte am Sachverständigentisch Platz nehmen, um aus seiner Expertensicht die geheimnisumwitterte Frage nach einem »Reflextod« zu beantworten. Dabei ging es wie gesagt immerhin um die Vermeidung eines möglichen Justizirrtums. Entsprechend spürte ich förmlich, wie Angeklagter und Verteidiger in Habachtstellung gingen, während mich der Richter darüber belehrte, dass ich mein Gutachten als Sachverständiger nach bestem Wissen und Gewissen und ohne Ansehen der Person zu erstatten habe. Bevor ich auf das eigentliche Thema, die Möglichkeit
eines reflektorischen Herzstillstands, zu sprechen kam, ging ich zunächst auf die eben vorgetragenen Befunde der Obduktion ein. Ich hatte nichts zu ergänzen oder anders zu bewerten, doch wollte ich noch einmal die Details der inneren Verletzungen betonen, weil sie später eine wichtige Rolle spielen würden: Der Kehlkopf und das Zungenbein (ein etwa vier Zentimeter langer, hufeisen förmiger Knochen, der sich kurz oberhalb des Kehlkopfes befindet) von Ino Jungmann waren gebrochen gewesen. In das Weichgewebe, das Kehlkopf und Zungenbein umgab, hatte es kräftig geblutet. Beides deutete auf eine nicht unerhebliche Gewalteinwirkung gegen den Hals von Ino Jungmann hin. Dass die Blutrückstände im Weichgewebe rötlich waren und noch feucht schimmerten, ließ zwei weitere Rückschlüsse zu. Zum einen mussten die Verletzungen dem Opfer vital zugefügt worden sein. Zum anderen waren sie »frisch«, also unmittelbar vor dem Tode von Ino Jungmann entstanden.
Um meine Auffassung zum »Reflextod« darlegen zu können, musste ich zunächst etwas weiter ausholen und an Beispielen erläutern, was damit gemeint war.
Es ist unstrittig, wie ich den Anwesenden nun erklärte, dass eine heftige und abrupte Reizung bestimmter Nervenendpunkte einen plötzlichen Abfall von Blutdruck und Herzfrequenz zur Folge haben kann. Da das Gehirn in diesem Fall vorübergehend nicht mehr ausreichend mit Blut – und damit mit Sauerstoff – versorgt wird, kann es infolgedessen auch zu einer kurzzeitigenBewusstlosigkeit kommen. Eine solche »Synkope« (vom griechischen syn = zusammen und koptein = schlagen) wird durch eine stumpfe äußere Gewalteinwirkung hervorgerufen. Beispiele hierfür sind kräftige Schläge oder Tritte bei Kampfsportturnieren oder wuchtige Treffer mit einem Ball auf den sogenannten Solarplexus, ein Nervengeflecht in der Tiefe des Bauchraums. Der Getroffene geht kurzfristig »k.o.«. Aber auch visuelle Eindrücke (zum Beispiel der Anblick von Blut) können bei manchen Menschen auf ähnliche, durch unsere Nervenbahnen gesteuerte Weise zu einem Kreislaufkollaps mit daran anschließender kurzzeitiger Bewusstlosigkeit führen. Und unabhängig davon, ob es sich um eine äußere Gewalteinwirkung oder plötzlich ausgelöste Emotionen handelt, kann eine solche Reaktion auch tödlich enden.
Da ich bei meinen Ausführungen niemanden im Besonderen ansah, weiß ich nicht, wie der Verteidigertisch auf diese Äußerung reagiert hat. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass sich der Angeklagte und sein Anwalt bestätigt fühlten.
Allerdings war mit meiner Anmerkung noch nicht die Frage nach einem möglichen »Reflextod« in diesem konkreten Fall beantwortet. Bevor ich dazu als Sachverständiger Stellung nehmen konnte, musste ich dem Gericht zunächst die
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