Der Totenleser
sind die Art des Drosselwerkzeugs, die Heftigkeit des Tätervorgehens, die Dauer des Vorgangs sowie die jeweilige Gegenwehr des Opfers.
Abschließend erklärte ich: »Im Fall von Ino Jungmann ist davon auszugehen, dass die ›Effektivität‹ des Täters beim Drosselvorgang dafür gesorgt hat, dass sowohl die arterielle Blutzufuhr als auch der venöse Blutabfluss vollständig durch die Kompression des Halses unterbunden wurden. Das wiederum führte dazu, dass es weder zu einer Schwellung von Hals und Gesicht noch zu punktförmigen Blutungen kommen konnte.«
Was ich für mich dachte, aber nicht laut sagte, weil es meine private Meinung war und nicht in meine Einschätzung als Obergutachter gehörte: Aleksej Wladimirowitsch wusste sicher sehr genau, was er tat, als er Jungmann von hinten angriff und erdrosselte. Nicht umsonst war er sechs Jahre lang Mitglied einer militärischen Spezialeinheit gewesen, die sich nicht mit psychologischer Kriegsführung beschäftigte, sondern operativ agierte.
Zwar zog sein Anwalt noch eine ganze Reihe von »Präzedenzfällen« aus dem Hut und stellte einen Beweisantrag nach dem anderen, doch keines der Beispiele widersprach der von mir dargelegten Sachlage.
Als keine weiteren Nachfragen mehr kamen, war die Gerichtsverhandlung für mich beendet und ich wurde »mit Dank entlassen«, wie es die meisten Richter zum Abschied so nett formulieren. Ich hätte am kommenden Tag im Zuhörerraum den Plädoyers von Staatsanwalt schaft und Verteidigung zuhören können, was ich aber nicht tat. In diesen manchmal stundenlangen Schlussworten, die dem letzten Wort des Angeklagten (das ihm per Gesetz immer zusteht, wenn er es denn wünscht) und der Urteilsverkündung vorausgehen, fassen die Parteien ihre Erkenntnisse aus der Gerichtsverhandlung und den Sachverhalt, wie er sich ihrer Wahrnehmung nach zugetragen hat, zusammen und beantragen ein Strafmaß beziehungsweise einen Freispruch.
Wenn ich in jedem Fall, bei dem ich als Sachverständiger vor Gericht geladen werde, dieser zeitaufwendigen Prozedur beiwohnen würde, käme ich kaum mehr zu meiner eigentlichen Arbeit als Rechtsmediziner. Und welchen Zweck sollte das auch haben? Ich ziehe keine Befriedigung daraus, wenn jemand wegen meines rechtsmedizinischen Gutachtens eines Verbrechens überführt wird. Allerdings hegte ich beim Verlassen des Gerichtssaals keine Zweifel, dass es in diesem Fall so sein würde. Anders als von der Verteidigung erhofft war durch die zweite Verhandlung nur bestätigt worden, was das Gericht schon im ersten Verfahren festgestellt hatte. Aleksej Wladimirowitsch wurde wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Und noch immer wartet die Fachwelt auf den ersten nachgewiesenen Fall von »Reflextod«. Und sogar die Opfer des Halb-Vulkaniers mit der irdischen Mutter sind nur lange genug ohnmächtig, um die Mission der Enterprise nicht mehr stören zu können …
GiftigeLeichen
Vor etwa zwölf Jahren hatte ein Kollege von mir nach frisch beendetem Medizinstudium seinen ersten Arbeitstag als Assistenzarzt. Pünktlich um sieben Uhr morgens betrat er das Institut, in dem er damals seinen Berufsweg als Rechtsmediziner begann. Als Erstes wurde er in seinen neuen Arbeitsplatz, den Sektionssaal, eingewiesen. Anschließend versammelten sich in einem Nebenraum alle Rechtsmediziner zusammen mit den Sektionsassistenten und Präparatoren zu einem Geburtstagsfrühstück. (Ja, so was gibt es tatsächlich auch in einem rechtsmedizinischen Institut, auch bei uns in Berlin.)
Der Kuchen, den das Geburtstagskind, eine 64-jährige Sektionsassistentin, herumreichte und den sie als mit viel Liebe selbst gebacken anpries, schmeckte ihm wie allen anderen sehr gut, und so blieb es nicht bei einem Kuchenstück. Seinen guten Appetit bereute mein Kollege jedoch wenige Minuten später, als er mit ebendieser Sektionsassistentin seine erste Obduktion in der Rechtsmedizin durchführte. Mit großem Schaudern musste er feststellen, dass die Dame keine Handschuhe bei der Obduktion trug. Sie schnitt nicht nur ohne Handschuhe die Brust- und Bauchhöhle des beleibten Toten auf, nein, sie griff mit ihren beiden Händen auch in den Körper des Mannes hinein, löste Binde- und Weichgewebe und entnahm die blutigen und teils von zerschnittenem Fettgewebe triefenden Organe mit bloßen Händen.
Auf seine Frage, warum sie denn gar keine Handschuhe tragen würde, entgegnete sie lapidar, dies hätte sie zeit ihres Lebens, in über vierzig
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