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Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos
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Berufsjahren, noch nie anders gehandhabt. Seit dieser Zeit meidet der Kollege Festivitäten in der Rechtsmedizin, bei denen von Mitarbeitern selbst hergestellte Speisen angeboten und verzehrt werden. Obwohl das natürlich übertrieben ist, denn bei uns in Berlin arbeitet niemand im Sektionssaal oder Labor ohne Handschuhe.
    Aber so lange ist es noch gar nicht her, dass Ärzte mit bloßen Händen operieren wie obduzieren mussten.
    Bei operativen Eingriffen in der Chirurgie wurde die Benutzung von Gummihandschuhen schon Ende des
    19. Jahrhunderts eingeführt, und zwar durch den amerikanischen Chirurgen William Stewart Halsted (der sich übrigens auch im Selbstversuch Kokain als lokales Betäubungsmittel injizierte und damit einer der Mitbegründer der Lokalanästhesie wurde). Dennoch dauerte es noch etwa fünfzig bis sechzig weitere Jahre, bis der Einsatz von Gummihandschuhen auch Einzug in die Rechtsmedizin hielt. Noch vor zehn bis fünfzehn Jahren gab es vereinzelt Rechtsmediziner und Sektionsassistenten, die sich über viele Jahrzehnte daran ge wöhnt hatten, ohne Handschuhe zu obduzieren, und dies auch weiterhin taten.
    Den meisten Menschen dürfte schon die Vorstellung unangenehm sein. Aber natürlich geht es bei der Arbeitskleidung des Rechtsmediziners um mehr als potentiellen Ekel – Gummihandschuhe und Mundschutz sollen vor allem unsere Gesundheit schützen. Denn bei einer Obduktion besteht immer das Risiko, sich mit einer Infektionskrankheit anzustecken, an der der Tote zu Lebzeiten erkrankt war.
    Allerdings wäre es mit der passenden Arbeitskleidung allein nicht getan. Deshalb gibt es ausführliche Hygieneordnungen, nicht nur zum Schutz derer, die dort tätig sind. Denn da die zu untersuchenden Leichen ja auch in die Rechtsmedizin und wieder hinaus gelangen müssen, könnten sich bei mangelnder Vorkehrung auch Unbeteiligte anstecken. Entsprechend enthalten die Hygieneordnungen detaillierte Vorschriften zum Infektionsschutz im Sektionssaal, beim Transport von Leichen bzw. Leichenteilen sowie im Umgang mit Organ- und Gewebeproben. Die Vorschriften betreffen bauliche Maßnahmen (flüssigkeitsdichte Fußböden wie PVC, genügend Bodenabläufe), Ausstattung (Sektionstische nur mit kratzfester, abwasch- und desinfizierbarer Oberfläche, Handbrause mit Schlauch an jedem Tisch) und Verhalten (Transport von Leichen nur von regelmäßig geschultem Personal, bei der Obduktion sofortiges Abspülen von Blut und Sekreten mit ruhig fließendem kaltem Wasser).
    Die häufigste Berufserkrankung von Rechtsmedizinern und Pathologen ist die Tuberkulose. Ich kenne einige Kollegen, die sich bei einer Obduktion mit Tuberkulose angesteckt haben, viele Wochen, teils sogar Monate in ihrem Job ausfielen und unter den zum Teil gravierenden Nebenwirkungen der medikamentösen Behandlung zu leiden hatten; wenn sie sich nicht sogar für einige Wochen in einer Lungenfachklinik, zum Teil auf der Isolierstation, aufhalten mussten. Aber auch die Virus-Hepatitis (Virusinfektion der Leber, die mit Entzündung und Schädigung der Leberzellen einhergeht) wird als Berufskrankheit anerkannt, sofern sich der betreffende Arzt bei der Arbeit infiziert hat.
    Nicht nur Infektionsmediziner gehen mittlerweile davon aus, dass unser 21. Jahrhundert das »Jahrhundert der Seuchen« wird.
    Der Begriff »Seuche« für hochansteckende Infektionskrankheiten hat sich über Jahrhunderte im Sprachgebrauch gehalten und rührt daher, dass diese Infektionskrankheiten zu »Siechtum« führen, einem früher gebräuchlichen Begriff für eine zunehmende Entkräftung durch einen zehrenden Krankheitsprozess. Im Mittel alter bezeichnete der Begriff Siechtum aber auch den ansteckenden Zustand von »Aussätzigen«. Die bereits vor einigen Jahren geäußerte Befürchtung von Gesundheitsexperten, die Menschheit stehe in unserem »Jahrhundert der Seuchen« vor ungeahnten Herausforderungen, was die medizinische Behandlung und Heilung hochansteckender Infektionskrankheiten anbelangt, scheint sich zu bewahrheiten. So kommt jetzt neben HIV, boviner spongiformer Enzephalopathie (»Rinderwahnsinn«), dem »Killerbakterium« Staphylococcus aureus , dem Grippevirus H5N1 (»Vogelgrippe«) und dem Grippevirus H1N1 (»Schweinegrippe«) eine neue Gefahr auf uns zu: Antibiotikaresistente Tuberkuloseerreger.
    Das für Tuberkulose verantwortliche Bakterium ist ein ebenso gefährlicher wie auch zäher Erreger. Er wird zumeist über die Atemwege aufgenommen und nistet sich anschließend in der Lunge

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