Der Totenleser
Beruf erlaubt hätte, sei dies wieder eine Information, die er ihnen vorenthalten müsse. Schon am Vorabend hätten die Spezialisten der Präfektur unter der Leitung des verantwortlichen Richters ihre Untersuchungen durchgeführt. Die Ergebnisse indes seien geheim. Jetzt gebe man den fortgeschrittensten Studenten die Gelegenheit, ihre Kenntnisse beizusteuern – sie hätten eine Stunde Zeit.
Schließlich erteilte der Wachmann Ming das Wort.
Schnell instruierte der Meister die drei Paare, die denLeichnam untersuchen sollten. Die Zeit jeder Gruppe würde durch ein herunterbrennendes Weihrauchstäbchen begrenzt. Ein Stäbchen für jedes Paar. Sie würden auf die bürokratischen Formalien verzichten und sofort mit der Untersuchung beginnen. Ming schärfte ihnen ein, alle relevanten Beobachtungen und Hinweise aufzuschreiben, denn sie benötigten sie für ihren Bericht, den man dann mit den amtlichen Erkenntnissen vergleichen werde. Schließlich legte er die Reihenfolge fest: Als Erste würden die beiden kantonesischen Brüder, wahre Literaturexperten, antreten, danach die zwei Jurastudenten und zuletzt Grauer Fuchs und Ci.
Sofort wies der Grauhaarige auf den Nachteil hin, den es bedeute, eine schon durch so viele Hände gegangene Leiche zu untersuchen. Ci war das gleich. Da sie keine anatomischen Kenntnisse besaßen, würden die Paare, die vor ihnen an der Reihe waren, die Leiche wahrscheinlich kaum berühren. Darüber hinaus gäbe ihnen die Verzögerung die Möglichkeit, die Fortschritte der Kommilitonen zu verfolgen. Während die Brüder aus Kanton auf den Tisch in der Mitte zutraten, bereitete Ci Papier und Pinsel für seine Notizen vor. Er suchte sich einen guten Platz und befeuchtete den Tintenstein.
Ming entzündete das Stäbchen, das den Beginn der Prüfung anzeigte. Augenblicklich verbeugten sich die beiden Studenten vor dem Meister. Dann stellten sie sich zu beiden Seiten des Tisches auf und zogen gemeinsam das Tuch von der Leiche. Gerade wollten sie mit der Untersuchung anfangen, da schepperte es plötzlich hinter ihnen. Die Kantonesen hielten inne, alle Anwesenden drehten sich um und sahen einen riesigen schwarzen Tintenfleck, der sich zu ihren Füßen ausbreitete. Der Verursacher des Lärms war Ci. Seine behandschuhten Finger verharrten noch in der Position, inder sie den Tintenstein gehalten hatten, der jetzt, in tausend Stücke zersplittert, über den Boden verteilt war.
Auf dem Untersuchungstisch lag die Leiche des Fahnders Kao.
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Verächtlich und entsetzt sahen die Versammelten zu Ci hin. Er entschuldigte sich flüsternd und nahm trotz der Unruhe, in die ihn Kaos Leiche versetzte, so dicht wie möglich am Tisch Aufstellung, um das Vorgehen der anderen Prüflinge zu beobachten. Er musste um jeden Preis herausfinden, was mit dem Ermittler passiert war. Er hatte Angst, doch er schluckte und nahm sich zusammen. Dann sah er zu, wie seine Kommilitonen den nackten Körper untersuchten und prägte sich alles ein, was sie feststellten. Während das erste Prüflingsduo das Fehlen von Verletzungen hervorhob, die auf einen gewaltsamen Tod hätten schließen lassen, und die Vermutung aussprach, es handele sich womöglich um einen Unfall, konzentrierte sich das zweite auf die kleinen Bisswunden an Lippen und Lidern und führte sie auf die in den Kanälen hausenden Schwärme hungriger Fische zurück. Die sonstigen Beobachtungen betrafen unbestreitbare Tatsachen wie Konstitution, Hautfarbe oder ältere Narben, die nichts zur Aufklärung der Todesursache beitrugen.
Als das zweite Weihrauchstäbchen verlosch, war Grauer Fuchs an der Reihe. Langsam trat der Angeber näher, als mäße das neue Stäbchen nur seine Zeit und nicht auch die von Ci. Wie eine Raubkatze, die ihre Beute umschleicht, umrundete er die Leiche und begann die Untersuchung entgegen den Gepflogenheiten bei den bläulich verfärbten Füßen.Von dort arbeitete er sich hinauf, befühlte die dicken, aber muskulösen Waden, die knotigen Knie und die kräftigen Oberschenkel. Bei dem ebenfalls von Fischen angefressenen Geschlecht hielt er inne, hob es vorsichtig an und untersuchte, ausführlicher als nötig, wie Ci fand, die herabgesunkenen Hoden. Ci sah das Weihrauchstäbchen kürzer werden. Grauer Fuchs war noch nicht einmal beim Brustkorb angekommen und hatte schon ein Viertel der Zeit verbraucht. Endlich erreichte er den Kopf und wendete ihn von einer Seite zur anderen. Wie zuvor gab er auch hier keinerlei Kommentar ab. Dann bat er um Hilfe beim
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