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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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Umdrehen der Leiche, und Ci nutzte die Gelegenheit, um die Starre der Glieder zu testen.
    Mit provozierender Langsamkeit machte Grauer Fuchs weiter, ganz im Gegensatz zur Schnelligkeit, mit der der Weihrauch verbrannte. Er untersuchte die Ohren, den breiten Rücken, die Gesäßbacken, die er auseinanderzog und wieder zusammendrückte, und abermals die unteren Extremitäten.
    Ci beobachtete nervös das Stäbchen, das bereits mehr als zur Hälfte heruntergebrannt war. Doch weder Grauer Fuchs noch Ming selbst, der zerstreut mit einem Studenten schwatzte, schienen sich dafür zu interessieren. Da er glaubte, der Meister werde die Zeit, die sein Mitbewohner überschritten hatte, hinten anhängen, beschloss Ci, ihn nicht zu unterbrechen. Als der Grauhaarige seine Untersuchung für beendet erklärte, war nur noch ein Fitzelchen Weihrauch übrig. Rasch löste Ci ihn ab.
    Den vorausgegangenen Untersuchungen hatte er entnommen, dass der Körper in der Tat keine Anzeichen von Gewalteinwirkung aufwies. Deshalb wandte er sich sofort dem Kopf zu und konzentrierte sich besonders auf den Nacken. Er hoffte, dort etwas Relevantes zu entdecken – vergeblich.Auch die Untersuchung von Mund, Augen und Nasenlöchern ergab keine Erkenntnisse, weder Hinweise auf die Anwendung von Gift noch von äußerer Gewalteinwirkung. Zum Schluss widmete er sich den Ohren. Das rechte erschien ihm unauffällig, doch im linken glaubte er plötzlich etwas zu sichten, dass ihm bei der Aufklärung des Todesfalls von Nutzen sein konnte. Es war nur eine Ahnung, aber er musste ihr nachgehen. Er kramte zwischen den Instrumenten. Die Zeit verstrich, ohne dass er das Gesuchte fand, und als er wieder zu dem Weihrauchstäbchen blickte, verlosch es gerade. Daraufhin verteilte er den gesamten Inhalt seines Bündels auf dem Boden und griff, als ginge es um sein Leben, nach einer Pinzette und einem kleinen Stein. Er betete, dass sich sein Verdacht bestätigen möge. Doch als er die Untersuchung abschließen wollte, trat einer der Wächter zwischen ihn und den Leichnam. Sein Gesicht wirkte grimmig. Ci dachte, man habe ihn entdeckt, senkte die Stirn und wartete einige scheinbar endlose Sekunden auf den traurigen Schlusspunkt seiner begonnenen Karriere.
    »Die Prüfung ist zu Ende«, teilte der Wachmann mit.
    Cis Herz klopfte. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Er musste weitermachen. Er hatte doch eben erst angefangen.
    »Verzeihung, werter Herr, aber Grauer Fuchs hat einen Teil meiner Zeit verwendet«, wagte er zu antworten. »Er …«
    »Damit habe ich nichts zu tun. Der Präfekt erwartet uns«, sagte der Wächter, ohne sich von der Stelle zu rühren.
    Hilfesuchend drehte Ci sich nach dem Meister um, doch dieser wich seinem Blick aus – er war allein.
    Ci verneigte sich zum Zeichen seines Einverständnisses. Langsam trat er zurück und verstaute die Pinzette in seinem Bündel. Doch bevor er sich endgültig entfernte, bat er umdie Erlaubnis, die Leiche mit dem Tuch bedecken zu dürfen. Der Wachmann zögerte, gestattete es ihm aber, und Ci gehorchte eifrig.
    Als sie den Raum der Toten verließen, war ein Leuchten in Cis Augen getreten.
    * * *
    Auf dem Rückweg zur Akademie entschuldigte Ming sich bei Ci.
    »Ich wollte dir mehr Zeit geben, glaub mir, aber ich wusste nicht, dass der Präfekt andere Pläne hatte.«
    Ci schwieg. Er dachte nur an die Folgen seiner Entdeckung. Der Präfekt, ein rundlicher, übelriechender Mann, hatte ihnen die absolute Vertraulichkeit der Sache in Erinnerung gerufen und sie beauftragt, zwei Tage später mit ihren schriftlichen Berichten wieder vor ihm zu erscheinen. Zwei Tage, um zu entscheiden, wie er sein Schicksal gestalten wollte.
    Beim Essen nahm Ci fast nichts zu sich. Anschließend mussten sie Ming ihre vorläufigen Ergebnisse präsentieren, und er wusste noch nicht, was er ihm erzählen sollte. Vermutlich wusste man in der Präfektur über Kaos Profession Bescheid, anders war die Geheimniskrämerei, die den Fall umgab, kaum zu erklären. Aber wusste man, dass der Fahnder ermordet worden war? Wenn er seine Schlussfolgerungen mitteilte, würde er die Aufmerksamkeit der Behörden auf die Existenz eines Mörders lenken, und womöglich wäre er selbst der Hauptverdächtige. Er schluckte einen Bissen hinunter, der ihm im Hals stecken blieb. Das zweite Studentenpaar befand sich bereits in Mings Arbeitszimmer. Bald wären sie an der Reihe. Er sah Grauer Fuchs auf einer Matte liegen und seine Notizen durchgehen. Ci wurde bang.
    Er fragte

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