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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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demütigenden Zurückweisung davon abgehalten.
    Eines freien Nachmittags beschloss Ci, im Palast der Lüste Gesellschaft zu suchen.
    Die Blume , die er erwählte, war freundlich zu ihm. Ja sogar liebevoll, fand Ci. Ihre Zärtlichkeiten machten vor seinen Verbrennungen nicht Halt, und ihre Lippen berührten ihn so, wie er es sich niemals hätte träumen lassen. Er gab ihr sein Geld, und sie linderte seine Einsamkeit.
    In der nächsten Woche kam er wieder. Und in der übernächsten und der darauffolgenden auch. Und so ging es weiter, bis er in einer wolkenverhangenen Nacht auf Grauer Fuchs traf, der an demselben Tisch saß, an dem er Ci vor einigen Monaten betrogen hatte. Kaum hatte Ci ihn erblickt,krampfte sich ihm der Magen zusammen. Von einer Horde Dummköpfe umringt, die über seine Witze lachten, war der junge Staatsdiener mit fröhlichem Trinken beschäftigt, als er seinen ehemaligen Kommilitonen entdeckte. Ci versuchte zu entwischen, aber am Ausgang versperrte Grauer Fuchs ihm den Weg. Langsam trat er näher, packte ihn am Kragen und zwang ihn, ihm ins Gesicht zu sehen. Gleichzeitig hielten auch seine Begleiter Ci fest.
    Dass er die Schläge nicht spürte, ließ sie immer härter und brutaler werden. Sie tobten sich an ihm aus und hörten erst auf damit, als er schlaff am Boden lag.
    Er erwachte in der Akademie, wo Ming ihn umsorgte. Mit der Vorsicht einer Mutter, die sich um ihr krankes Kind kümmert, legte der Meister ihm ein feuchtes Tuch auf die Stirn. Ci konnte sich kaum bewegen, konnte kaum etwas sehen. Schwärze hüllte ihn ein. Als er das zweite Mal erwachte, saß Ming immer noch bei ihm. Ci hörte seine Stimme, verstand jedoch nicht, was er sagte. Er hatte keine Vorstellung, wie viel Zeit seit dem Zusammentreffen mit Grauer Fuchs vergangen war.
    Der Meister sagte ihm, dass er drei Tage bewusstlos gewesen sei. Ein Mädchen, das er offenbar kannte, habe ihn über den Vorfall informiert, und dann sei er mit ein paar Schülern aufgebrochen, ihn zu holen.
    »Ihren Worten zufolge haben dich mehrere Unbekannte angegriffen. Zumindest ist das die Version, die ich hier erzählt habe.«
    Ci versuchte sich aufzurichten, aber Ming hinderte ihn daran. Der Mediziner, der in der Akademie gewesen war, hatte ihm Ruhe verordnet, bis die gebrochenen Rippen geheilt waren. Er musste einige Wochen das Bett hüten. Lange genug, um die wichtigsten Seminare zu versäumen. AberMing sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen. Sanft wie eine Blume nahm er seine Hand.
    »Ich passe auf dich auf.«
    * * *
    Außer seiner Pflege musste Ci während der Genesung auch Mings ständige Vorwürfe ertragen. Der Meister redete ihm ins Gewissen, dass sein menschenscheues Verhalten ihn der Freude am Wissen, der Fröhlichkeit der anderen Schüler beraube. Er lobte seinen Fleiß, doch dieselbe Überlegenheit, die er bei seinen Analysen zeige, scheine ihn in eine ungesunde Abkapselung zu führen. Und den Folgen nach zu urteilen, sei die Gesellschaft einer Blume wohl nicht die beste Lösung. Ci tat, als hörte er nicht zu, aber nachts, wenn die Stunden zäh dahinflossen, dachte er über die Worte des Meisters nach. Worte, die ihm keine Ruhe ließen, denn er wusste, dass sie der Wahrheit entsprachen. Jene Schatten, die ihn in der Nacht überfielen, waren dabei, ihn lebendig zu begraben. Die Zweifel über seinen Vater verzehrten ihn Stück um Stück, bohrten sich in seine Eingeweide und wurden jeden Tag größer. Wenn er seinen Traum tatsächlich verwirklichen wollte, musste er dieses Gespenst aus seinem Herzen verjagen.
    Aber wie?
    Eines Nachts war er entschlossen, sich Ming anzuvertrauen.
    Er fand ihn in seinem Arbeitszimmer, halb verborgen hinter einer Wolke aus Rauch,die schmutziggrau in der Dunkelheit des Zimmers hing. Der intensive, süße Duft des Sandelholzes drang ihm in die schmerzenden Lungen. Seine Augen entdeckten einen reglosen Ming, der vor einer Tasse Teemeditierte. Das Gesicht des Meisters hatte den matten Glanz von Wachs. Als er Ci erkannte, forderte er ihn mit schwacher Stimme auf, sich zu setzen. Ci gehorchte schweigend. Er hatte keine Ahnung, wo er anfangen sollte, aber Ming half ihm dabei.
    »Es muss etwas Wichtiges sein, dass du meine Gebete unterbrichst. Nur zu, ich höre dich gern an.«
    Seine Stimme klang sanft. Ci versuchte ruhig zu atmen. Niemand wusste besser als Ming, wie man aus den Fasern eines abgebrochenen Zweiges einen feinen Pinsel für die Arbeit machte.
    Ci erklärte dem Meister, wer er war und woher er kam. Er

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