Der Totenleser
berichtete ihm von der seltsamen Krankheit, die seinen Körper zeichnete, von seinem früheren Aufenthalt an der Universität, von den Tagen als Assistent bei Richter Feng, vom Untergang seiner Familie und von seiner fürchterlichen Einsamkeit. Vor allem aber offenbarte er ihm das schändliche Verhalten seines Vaters und die Schmach, die er über ihn, den Sohn, gebracht hatte. Als der Moment gekommen war, dem Meister zu erzählen, dass er selbst vor ebenjenem Fahnder auf der Flucht war, den man ermordet aufgefunden hatte, verließ ihn der Mut.
Ming hörte ihm ruhig zu und schlürfte seinen dampfenden Tee, als handelte es sich um eine teure und erlesene Speise. Sein unerschütterlicher Gesichtsausdruck war der eines alten Menschen, der dieselbe Geschichte zum tausendsten Mal erzählt bekommt. Als Ci geendet hatte, stellte er die Schale auf den niedrigen Tisch und blickte ihn lange an.
»Du bist schon zweiundzwanzig. Ein Baum ist stets für seine Früchte verantwortlich, aber eine Frucht kann es nicht für ihren Baum sein. Und selbst dann bin ich mir sicher, dass du, wenn du in deinem Innern suchst, Gründe findest, auf deinenVater stolz zu sein. Ich sehe sie in deiner Klugheit, in deinen Gebärden, in deiner Erziehung.«
»Meiner Erziehung? Seit ich an die Akademie gekommen bin, war mein Leben eine Abfolge von Lügen und Verstellungen.«
»Du bist ein ehrgeiziger und ungestümer junger Mann, aber kein Bösewicht. Sonst würden dich nicht diese Gewissensbisse quälen, die dich nicht schlafen lassen.Was deine Lügen angeht …« Er goss neuen Tee in seine Schale. »Es ist kein guter Rat, aber du solltest lernen, besser zu lügen.«
Ming stand auf und ging in die Bibliothek, aus der er mit einem Buch zurückkehrte, das Ci bekannt vorkam. Es war ein Strafgesetzbuch, ähnlich dem seines Vaters.
»Ein Schlachthofarbeiter, der das Songxingtong beherrscht?«, provozierte er ihn. »Ein Totengräber, der, obwohl er gerade erst in Lin’an angekommen ist, den einzigen Ort kennt, wo ein so ungewöhnliches Lebensmittel wie der Käse verkauft wird? Ein ungebildeter Bauer, der alles vergessen hat bis auf seine weitreichenden Kenntnisse über Verletzungen und Anatomie? Sag mir eines, Ci: Hast du wirklich gedacht, du könntest mich überlisten?«
Ci wusste keine Antwort. Zum Glück erbarmte sich Ming und unterbrach seine Suche nach den richtigen Worten.
»Ich habe etwas in dir gesehen, Ci. Hinter den Lügen, die dein Mund verbreitete, habe ich einen Hauch von Traurigkeit erahnt. Deine Augen baten um Hilfe. Unschuldig waren sie, verzweifelt. Enttäusche mich nicht, Ci.«
In dieser Nacht fand Ci endlich Ruhe.
Es sollte das erste und letzte Mal sein. Denn am nächsten Tag traf eine überraschende Nachricht ein.
FÜNFTER TEIL
23
Dieser Morgen hätte ein Junimorgen sein können wie jeder andere. Ci war bei Sonnenaufgang aufgestanden, hatte sich in Mings Privathof gewaschen und seine Toten geehrt. Nach dem Frühstück hatte er sich in der Bibliothek in das Kompendium vertieft, das er an diesem Nachmittag dem versammelten Lehrkörper präsentieren sollte – eine Zusammenstellung forensischer Methoden und Praktiken, die zeigten, woran er gearbeitet hatte, seit er in Mings Diensten stand. Doch am fortgeschrittenen Morgen stellte er mit Entsetzen fest, dass er vergessen hatte, einige äußerst wichtige Passagen aus dem Zhu Bing Yuan Hou Lun , dem allgemeinen Traktat über die Ursachen und Symptome von Krankheiten mit aufzunehmen, das er in Mings Arbeitszimmer hatte liegen lassen.
Ci seufzte. Er brauchte die Abhandlung unbedingt, doch ausgerechnet an diesem Morgen war Ming überraschend in einer dringenden Angelegenheit in die Provinzpräfektur gerufen worden und war noch nicht zurück. Wenn er seine Rückkehr abwartete, würde er die Präsentation nicht rechtzeitig fertigstellen. Er dachte über die Kühnheit nach, die es bedeuten würde, Mings Privaträume ohne vorherige Erlaubnis zu betreten. Das war keine sehr gute Idee – aber er brauchte das Buch.
Er drückte die Tür auf und betrat das Arbeitszimmer. Alles lag im Dunkeln, also tastete er sich blind bis zu Mings Privatbibliothek vor.
Langsam fuhr er mit dem Finger über das Regalbrett, auf dem es normalerweise stand, doch als er nach dem Buch greifen wollte, langte er ins Leere. Irritiert sah er sich um. Schließlich entdeckte er die Abhandlung auf dem Schreibtisch,sielag unter anderen in Seide eingeschlagenen Büchern. Er streckte schon den Arm danach aus, doch
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