Der Totenleser
verließ. Wissbegierig nahm er am Rechtskundeunterricht teil und absolvierte die Runden durch die Hospitäler von Lin’an mit der Energie eines Heranwachsenden, der seine Freundin beeindrucken möchte. Aber obwohl es bereichernd für ihn war, die Toten zu sehen, genoss er doch vor allem die Nachmittage. Wenn das Essen vorbei war, zog er sich in Mings Arbeitszimmer zurück und verbrachte die Stunden mit den unzähligen medizinischen Abhandlungen, die der Meister vor ihrer Schließung aus der Fakultät gerettet hatte. Während er darin las und las, stellte Ci fest, dass die Texte trotz der in ihnen gesammelten Kenntnisse ihre Themen mitunter in verworrener, redundanter oder unsystematischer Weise behandelten, und deshalb schlug er Ming vor, das Chaos zu ordnen. Seines Erachtens bestand die Lösung in der Niederschrift neuer, nach Krankheiten gegliederter Abhandlungen, so dass man sie konsultieren konnte, ohne ständig mehrere Quellen benutzen zu müssen, in denen letztlich immer wieder nur die gleichen Gedanken auftauchten.
Den Professor begeisterte die Idee derart, dass er ihr höchste Priorität einräumte. Er überzeugte sogar das Lehrerkollegium von der Notwendigkeit, diese Aufgabe in Angriff zunehmen, und erlangte die Bewilligung zusätzlicher Gelder, die er zum Teil für den Kauf von Material und zum Teil für Cis Entlohnung einsetzte.
Ci arbeitete hart. Anfangs beschränkte er sich darauf, Informationen aus medizinischen Büchern wie dem Wu-tsang-shen-lu , der »Göttlichen Rede über die Funktionskreise des Körpers«, dem Ching-hen fang , den »Auf Erfahrung gründenden Verordnungen«, oder dem Nei-shu lu , dem »Versuch über die abgeleiteten Antworten«, zusammenzutragen und zu organisieren. Er vertiefte sich außerdem in Abhandlungen zu kriminologischen Fragen, etwa in das I-yü chi , die alte »Sammlung zweifelhafter Fälle«, oder das Che-yü kuei-chien , den »Magischen Spiegel zur Aufklärung von Fällen«. Im Laufe der Monate setzte Ci nicht nur die Auswertung fort, sondern begann, seine eigenen Erkenntnisse zu durchdenken. Das tat er nachts, wenn Ming schlief. Nach den Gebeten für die Ahnen zündete er seine Lampe an und beschrieb in ihrem gelben Licht die Methoden, die man, wie er meinte, bei der Untersuchung einer Leiche anwenden solle. Seiner Ansicht nach bedurfte es nicht nur genauer Kenntnis der Todesumstände, sondern auch absoluter Sorgfalt bei den einfachsten und trivialsten Handgriffen. Um Unachtsamkeiten zu vermeiden, war es nötig, eine ganz bestimmte Reihenfolge einzuhalten, beginnend beim Scheitel, den Schädelnähten und dem Haaransatz. Von dort ging es weiter zur Stirn, den Brauen und den Augen, deren Lider man öffnen sollte, ohne zu fürchten, dass die Seele des Toten entwich. Danach musste man an der Kehle fortfahren, sich das Zäpfchen im Rachen vornehmen, den Oberkörper, das Herz, den Nabel, den Schambereich, das Geschlecht – beim Mann musste man den Hodensack und die Hoden eingehend betasten; bei den Frauen, nach Möglichkeit mit Hilfe einer Hebamme, dieGeburtspforte kontrollieren oder, im Falle von Jungfrauen, die verborgene Pforte. Zum Schluss untersuchte man Arme und Beine, ohne die Finger, Zehen und Nägel zu vergessen. Die Rückseite erforderte dieselbe Sorgfalt, weshalb man mit dem Nacken beginnen sollte, dem Wirbel, der auf dem Kissen liegt, um dann mit Hals, Rücken und Hinterbacken fortzufahren. Gleichfalls musste man den Anus untersuchen, ebenso wie die Unterseite der Beine, wobei es sich empfahl, stets beide Gliedmaßen zugleich zu befühlen, damit man jeglichen, eventuell durch Schläge oder Entzündungen hervorgerufenen Unterschied erkennen konnte. Auf Grundlage dieser vorläufigen Bestandsaufnahme bestimmte man das Alter des Verstorbenen und den ungefähren Zeitpunkt seines Todes.
Als Ming die ersten Seiten las, war er sprachlos. Viele von Cis Gedanken, besonders jene über die Vorgehensweise bei einer gerichtlichen Untersuchung, übertrafen die in einigen Abhandlungen unsystematisch verstreuten Hinweise deutlich an Klarheit und Genauigkeit. Außerdem beschrieb Ci ihm selbst unbekannte Methoden und Erfahrungen, machte neuartige Vorschläge zum Einsatz chirurgischer Instrumente und erläuterte die merkwürdige Konservierungskammer, die dazu diente, Köperteile für längere Zeit aufzubewahren.
Ci verkehrte kaum mit den übrigen Studenten. Die Gespenster seiner Vergangenheit trieben ihn, zu arbeiten wie ein Sklave, mehr brauchte er nicht. In seinem Kopf gab es
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