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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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plötzlich hielt er inne. Es war nicht richtig, dass er heimlich in dieses Zimmer drang.
    Er wollte sich gerade zurückziehen, als plötzlich die Tür aufging. Ci fuhr zurück, dabei riss er den Stapel mit der in Leder eingebundenen Abhandlung mit sich. Als er sich umdrehte, sah er Ming in der Tür stehen. Der Meister trat in das Zimmer und zündete eine Laterne an.
    »Was hast du hier zu suchen, Ci?«, fragte er erstaunt.
    »Ich … musste das Zhu Bing Yuan Hou Lun konsultieren«, stammelte Ci.
    »Ich habe dich gebeten, dieses Zimmer nicht während meiner Abwesenheit aufzusuchen«, sagte Ming ärgerlich.
    Ci bückte sich rasch, um die Bücher aufzusammeln und sie Ming zu reichen, dabei fielen Zeichnungen von nackten Männern aus einem Exemplar. Ming beeilte sich, die losen Blätter zu verstecken.
    »Das ist ein Anatomiebuch«, entschuldigte er sich.
    Ci nickte, obwohl er genau durchschaute, dass Ming ihn belog. Er kannte alle Arten physiologischer Zeichnungen, und niemals waren darauf zwei kopulierende Männer abgebildet. Er entschuldigte sich noch einmal und bat um Erlaubnis, sich zurückzuziehen.
    »Eigenartig, dass du meine Erlaubnis erbittest, um hinauszugehen, nicht aber, um einzutreten. Und deine Abhandlung, brauchst du die jetzt nicht mehr?«, fragte Ming.
    »Verzeiht, Herr, das war dumm von mir.«
    Ming schloss die Tür und bat Ci, sich zu setzen. Dann nahm er ebenfalls Platz.
    »Sag mir eins, Ci. Hast du dich mal gefragt, warum jemand sich so für dich einsetzt, wie ich es tue?«
    »Schon oft.« Er senkte beschämt den Kopf.
    Unruhig ging Ming auf und ab. »Weißt du, Ci, ich komme gerade von der Provinzpräfektur. Man hat mich gebeten, den Kaiserlichen Richtern als Berater zur Seite zu stehen, weil offenbar jemand ein monströses Verbrechen begangen hat. Und was habe ich getan? Ich habe ihnen von dir erzählt!« Er lächelte bitter. »Ich sagte ihnen, dass es in der Akademie einen wahrhaft außergewöhnlichen Schüler gebe, der sogar besser sei als ich. Jemand mit einer einzigartigen Beobachtungsgabe. Und ich habe sie angefleht, dass sie dir erlauben, mich zu begleiten. Ich habe von dir gesprochen wie ein stolzer Vater von seinem Sohn. Und wie dankst du es mir? Indem du mein Vertrauen missbrauchst? Indem du dich in meine Gemächer schleichst und zwischen meinen Büchern herumschnüffelst?« Ming schlug mit der Faust auf den Tisch.
    Ci war verstummt. Er zitterte am ganzen Körper und brachte kein einziges Wort hervor. Es tat ihm weh, was er hören musste. Er wollte entgegnen, dass er das Arbeitszimmer niemals betreten hätte, außer in der größten Verzweiflung. Er wollte ihm sagen, dass, wenn er das Lernen nicht so sehr liebte, wenn er ihm nicht so viel Verehrung entgegenbrächte, wenn er sich nicht so sehr in der Pflicht fühlte, jede seiner Erwartungen zu erfüllen, er niemals in seine Privatsphäre eingedrungen wäre. Dass die unentschuldbare Übertretung nur dem Wunsch entsprungen war, seinen Meister vor dem Rat nicht zu enttäuschen, ihn stolz zu machen. Doch seine Zunge versagte ihm den Dienst, und das Einzige, was er hervorbrachte, war ein feuchter Glanz in seinen Augen.
    Zerknirscht stand Ci auf und wandte sich zum Gehen, doch der Meister hielt ihn am Arm fest.
    »Nicht so schnell.« Er hob die Stimme. »Ich habe mein Wort gegeben, dass du im Gericht erscheinen würdest, undso wird es sein. Aber nach dem Besuch gehst du fort. Du nimmst deine Sachen und verschwindest für immer aus dieser Akademie. Ich will dich nie wieder sehen.«
    * * *
    Jeder Sterbliche, der recht bei Verstand war, hätte sich eine Hand abhacken lassen, nur um einmal den Kaiserlichen Palast zu betreten. Und Ci hätte sich in diesem Augenblick beide Hände abhacken lassen für eine einzige freundliche Geste von Ming. Mit gesenktem Kopf folgte er dem Professor über die Allee des Kaisers auf den Hügel des Phönix zu. Jedes Mal, wenn Ci aufsah, fragte er sich, wie er seinen Meister so hatte enttäuschen können.
    Ihnen voraus gingen zwei Diener, die frenetisch auf ihren Tamburinen trommelten, um das Volk auf den Richter der Präfektur aufmerksam zu machen, der in seiner Sänfte durch die Straßen getragen wurde.
    Ming hatte nicht einmal mehr das Wort an ihn gerichtet, nachdem er ihn informiert hatte, dass Kaiser Nin Zong sie in seinem Palast erwartete.
    Nin Zong, Sohn des Himmels, der weise Vorfahr. Nur wenigen Erwählten war es erlaubt, sich vor ihm in den Staub zu werfen, und noch viel wenigeren, ihn anzuschauen. Nur seine

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