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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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nichts anderes. Er machte seine Arbeit, so gut er konnte, und fluchte, wenn er die Antwort auf eine Frage nicht wusste oder bei der Untersuchung einer Leiche eine Verletzung übersah. Und wenn er einen Fall löste, kostete er es allein aus, denn er hatte keine Freunde, ja nicht einmal Studienkollegen.Doch das war ihm egal. Zurückgezogen von der Welt, verrann ihm die Zeit beim Arbeiten. Augen hatte er bloß für Bücher, und das Herz gehörte seinen Träumen.
    Immer wieder beharrte Ming jedoch auch auf den rechtlichen Aspekten.
    »Manchmal besteht deine Aufgabe nicht allein darin, die Todesursache zu ermitteln«, erläuterte der Meister. »Was geschieht, wenn ein Mann von mehreren Personen verprügelt wird? Oder schlimmer noch, wenn er erst nach einigen Tagen stirbt? Wie findest du heraus, ob sein Tod auf Grund der zugefügten Wunden eingetreten ist oder doch durch eine frühere Erkrankung?«
    Daraufhin erzählte ihm Ming von den Fristen des Todes.
    Ci kannte die Einteilung der Wunden nach dem Werkzeug, mit dem sie verursacht wurden, aber es erstaunte ihn, dass dieses Schema auch für die Bestimmung der Todesfristen Verwendung fand. Ming präzisierte, dass den Verletzungen durch Schläge mit der Hand oder Fußtritte ein Zeitraum von maximal zehn Tagen entspreche, während die äußerste Frist für die durch andere Waffen und Bisse von Tieren verursachten Wunden bei zwanzig Tagen liege. Er fügte hinzu, dass sich der Zeitraum bei Verbrühungen oder Verbrennungen auf dreißig Tage erhöhe, ebenso wie bei ausgestochenen Augen, zerschnittenen Lippen oder gebrochenen Knochen.
    »Und das ist entscheidend, denn wenn sich der Tod innerhalb des zeitlichen Rahmens ereignet, geht man davon aus, dass er auf die Verletzungen zurückgeführt werden muss. Wird die Frist aber überschritten, argumentiert man, dass er keine direkte Folge der Verletzungen darstellt, und kann den Angeklagten nicht des Mordes beschuldigen.«
    Ci erschien es seltsam, dass etwas so Individuelles sich derart abstrakt messen ließ.
    »Aber was ist, wenn spätere Verletzungen dazukommen? Oder wenn die Person nach Ablauf der Frist stirbt, jedoch auf Grund der ursprünglichen Verletzungen?«
    »Ich gebe dir ein Beispiel. Stellen wir uns einen Mann vor, der mit einer Waffe verletzt wurde, nur ein Kratzer, aber nach einer Woche entzündet sich die Wunde, und der Mann stirbt. Nehmen wir an, der Tod ereignet sich vor Ablauf der zwanzig Tage. Dann wird der Täter des Mordes angeklagt, unabhängig davon, wie leicht die verursachende Verletzung gewesen sein mag. Wenn derselbe Mann aber während des Wundbrandes von einer Schlange gebissen würde und an dem Gift stürbe, könnte man den Täter nur wegen Körperverletzung verurteilen.«
    Ci schüttelte den Kopf, und er schüttelte ihn noch mehr, als er von dem Sonderfall hörte, der schwangere Frauen betraf: Wenn eine Schwangere verletzt wurde und ihr Kind vor Ablauf der Frist verlor, verlängerte diese sich um dreißig Tage, wobei berücksichtigt werden musste, dass die Summe der beiden Fristen fünfzig Tage nicht überschritt. Als Ci dem Meister sagte, nach seiner Auffassung müsse man doch wohl jeden Fall individuell behandeln, war es an Ming, sich zu wundern.
    »Die Gesetze sind dazu da, dass man sie erfüllt. Dein rebellisches Wesen hat dir schon genug Probleme eingetragen«, wies er ihn zurecht.
    Ci war sich dessen nicht so sicher. Es stimmte zwar, dass die Gesetze Gutes bewirken wollten, aber unter Einhaltung der Regeln hatte der Hof auch einem Schwindler wie Grauer Fuchs den Titel eines Kaiserlichen Staatsbeamten verliehen. Beim Gedanken an den einstigen Zimmergenossen fühlte ereinen stechenden Schmerz in der Magengegend. Er senkte den Kopf, um die Diskussion zu beenden, und setzte seine Arbeit fort. Dabei überlegte er, was aus dem Grauhaarigen wohl geworden sein mochte.
    * * *
    Schnell verging der Winter, doch der Frühling verkroch sich irgendwo in Cis Seele.
    Oft wachte er zitternd auf und starrte verzweifelt ins Leere, tastete in der völligen Finsternis nach Mei Meis Körper, suchte sie mit den Augen, suchte sie mit dem Herzen. Dann verbrachte er den Rest der Nacht voller Unruhe, von ihrer Abwesenheit ebenso beängstigt wie von der einer Familie, die je gehabt zu haben er immer weniger glauben konnte. In solchen Momenten sehnte er sich nach Richter Feng, einem vertrauten Menschen. Einmal hatte er sich vorgenommen, Fengs Aufenthaltsort zu ermitteln, aber dann hatte ihn doch die Angst vor einer weiteren

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