Der Totenleser
suchen? Anscheinend war eine Belohnung ausgeschrieben.«
»Nein, woher sollte ich das wissen?«, sagte Ci betont gleichgültig.
»Du kommst doch daher.Wenigstens hast du das gesagt, bei deiner Vorstellung am ersten Tag in der Akademie.«
»Fujian ist eine große Provinz. Jeden Tag kommen Tausende Menschen von dort hierher. Warum fragst du nicht die?«
»Sei doch nicht so argwöhnisch, Ci. Ich sage dir das, weil wir Freunde sind.« Er lächelte scheinheilig. »Aber es ist trotzdem ein merkwürdiger Zufall.«
»Und kennst du den Namen des Flüchtigen?«
»Bisher nicht. Dieser Kao war anscheinend ein ziemlich verschlossener Mensch und hat kaum über die Sache gesprochen.«
Ci seufzte. Er überlegte, ob er es dabei bewenden lassen sollte, aber es schien ihm verdächtig, kein Interesse zu zeigen.
»Das ist eigenartig. Normalerweise schreibt die Justiz keine Belohnungen aus.«
»Ich weiß. Vielleicht kam das Geld von irgendeinem Grundherrn. Der Flüchtige muss jemand Wichtiges sein.«
»Vielleicht hat der Fahnder irgendeinen Hinweis bekommen und wollte sich die Belohnung unter den Nagel reißen«, schlug Ci vor. »Oder er hatte sie bereits kassiert und wurde deshalb umgebracht.«
»Vielleicht.« Grauer Fuchs schien darüber nachzudenken. »Ich habe einen Brief an die Präfektur von Jianningfu geschrieben. In zwei Wochen hoffe ich, den Namen desFlüchtigen und seine Beschreibung zu bekommen. Ihn zu fangen wird so leicht sein, wie einem Kind einen Apfel zu klauen.«
25
Beim Essen bekam Ci nicht ein einziges Reiskorn hinunter. Er war empört gewesen, als er erfuhr, dass Grauer Fuchs sein Untersuchungspartner sein würde, doch die Nachricht, dass er die Umstände des Todes von Kao untersuchte, hatte ihm alles Blut aus dem Gesicht weichen lassen. Ihm blieben zwei Wochen, bis eine Information eintreffen konnte, die ihn mit Kao in Verbindung brachte. In der Zwischenzeit musste er sich auf das konzentrieren, was am Hofe geschah. Wenn er den Fall löste, hatte er vielleicht eine Chance.
Grauer Fuchs schlürfte seine Suppe gierig wie ein Schwein. Ci schob das Essen von sich und entfernte sich ein paar Schritte, doch sein Rivale kam ihm hinterher. Sie hatten gerade erfahren, dass die Leichen in einem Lagerraum in den Verliesen untergebracht waren, und keiner von beiden wollte die Gelegenheit versäumen, sie zu untersuchen, bevor die Verwesung weiter voranschritt. Ci beschleunigte seinen Schritt. Doch als er den Raum betrat, sah er, dass die Instrumente, um die er gebeten hatte, noch nicht vorhanden waren. Bo sagte, er wisse nichts von einem solchen Auftrag.
Ci verfluchte Kan. Er griff nach dem Siegel, das ihm alle Türen öffnete, und ohne abzuwarten, dass Bo ihm die Erlaubnis erteilte, verkündete er seinen Entschluss, sich selbst zur Akademie aufzumachen. Er schlug vor, Bo solle ihn begleiten. Er wartete seine Antwort gar nicht erst ab, sondern machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum.Der Kaiserliche Beamte folgte ihm, und Grauer Fuchs blieb alleine zurück.
Während Bo sich in der Akademie darum kümmerte, dass ein Hausdiener die Instrumente in den Palast brachte, suchte Ci verzweifelt nach Ming. Er fand ihn im Arbeitszimmer, über seine Bücher gebeugt. Seine Augen waren rot. Ci verbeugte sich und bat ihn verlegen um Gehör.
»Jetzt brauchst du mich?«, tadelte Ming. »Die ganze Akademie weiß, dass der Kaiser dich als Totenleser unter Vertrag genommen hat. Hier erzählt man sich, dass der hochmütige Junge seinen dummen Meister überflügelt hat.« Er lächelte bitter.
Mings Tonfall verriet Enttäuschung, und Ci fühlte sich schuldig, schließlich war es Ming gewesen, der ihn aufgenommen und unterrichtet hatte, ohne je eine Gegenleistung zu verlangen. Er wollte ihm sagen, dass er ihn brauchte, dass er um seine Anwesenheit im Palast gebeten hatte, dass man ihm jedoch keine Wahl gelassen habe. Er wollte es gerade aussprechen, als Bo erschien und ihn zur Rückkehr in den Palast aufforderte.
»Es wird spät«, mahnte er.
»Ah, jetzt weiß ich, warum du gekommen bist«, sagte Ming, als er in den Händen des Hausdieners die Instrumente und den Kühlkasten erblickte.
»Verzeiht, ich muss jetzt gehen.« Ci presste die Lippen zusammen.
»Ja, geh nur«, sagte Ming, und Ci spürte, dass hinter seinen Worten keine Wut steckte, sondern Bedauern.
Als Ci den Lagerraum erreichte, war Grauer Fuchs bereits gegangen. Man sagte ihm, er habe die Leichen nur einer kurzen Untersuchung unterzogen, bei der nichts Neues
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