Der Totenleser
war.
Plötzlich hielt er inne. Ihn schmerzte noch immer der Kopf, doch er glaubte deutlich einen bestimmten Geruch auszumachen.
»Riecht Ihr das?« Er schnüffelte.
»Was denn?«, fragte Kan.
»Das Parfüm.«
Ci näherte sich mit der Nase dem Krater, der zwischen den Brustwarzen klaffte. Dann richtete er sich wieder auf und runzelte die Stirn. Es handelte sich zweifellos um Jade-Essenz. Derselbe Duft, den Blaue Iris in der letzten Nacht verströmt hatte. Diese Entdeckung verschwieg er Kan.
»Wo ist die Kleidung?«, fragte er stattdessen.
»Der Leichnam wurde nackt gefunden«, antwortete der Einäugige.
»Und man hat nichts bei ihm gefunden? Nichts, was ihn identifizieren könnte?«
»Nein.«
»Wir haben die Ringe«, mischte sich der Inspektor ein.
»Welche Ringe?«, fragte Ci erstaunt.
»Ach ja! Die hatte ich ganz vergessen.« Kan räusperte sich, ging hinüber zu einem Tischchen und zeigte sie ihm.
Ci war verblüfft.
»Erkennt Ihr sie nicht?«, fragte er den Strafrat.
»Nein. Warum sollte ich?«
»Es sind die Ringe, die der Bronzefabrikant gestern Abend trug.«
* * *
Als sie allein waren, erzählte Ci Kan von seinen Zweifeln, was die Verstrickung von Blaue Iris in diesen Fall anging.
»Beim großen Buddha, die Frau ist blind!«
»Die Frau ist ein Teufel«, versicherte ihm Kan. »Und wenn du anderer Meinung bist, dann sag mir, wie lange hat es gedauert, bis du bemerkt hast, dass sie nicht sehen kann? Wie lange hat sie dich getäuscht?«
»Aber könnt Ihr Euch wirklich vorstellen, dass eine Blinde Köpfe absägt und Leichen durch die Gegend schleift?«
»Sei nicht so dumm! Niemand behauptet, dass sie es persönlich tut«, knurrte er.
»Und wer dann?«
»Wenn ich das wüsste, müsste ich dich nicht länger ertragen!«, grollte Kan und schleuderte mit einer Handbewegung Cis gesamtes Instrumentarium auf den Boden.
Ci spürte, wie das Blut ihm ins Gesicht stieg. Er atmete einmal tief durch. Dann sammelte er die Utensilien ein, die auf dem Boden verstreut lagen.
»Exzellenz, wir wissen beide, dass es verschiedene Arten von Mördern gibt. Lassen wir für einen Moment diejenigen außer Acht, die nicht vorhaben zu töten: normale Menschen, die eines Tages bei einem Streit die Nerven verlieren oder ihre Frau in den Armen eines anderen erwischen. Diese Menschen lassen sich zu einer Torheit hinreißen, die sie sich bei klarem Verstand niemals hätten träumen lassen, und dafür müssen sie den Rest ihres Lebens büßen.« Er hob das letzte Instrument vom Boden auf. »Denken wir an die anderen: an die wahren Mörder, die Monster. In dieser Gruppe gibt es verschiedene Typen. Es gibt diejenigen, die von Wollust getrieben werden, Wesen, unersättlich wie Haie. Ihre Opfer sind meist Frauen oder Kinder. Und es genügt ihnen nicht, sie zu töten. Sie schänden sie erst, dann massakrieren sie sie. Dann gibt es die Gewalttätigen, Hitzköpfe, die bereit sind, aus dem kleinsten Anlass ein Leben zu zerstören, wie friedlich schlafende Tiger, die jeden verschlingen, sobald man eines ihrer Barthaare streift. Dann sind da noch die Erleuchteten, die fanatisch ein Ideal verfolgen oder einer Sekte angehören und bereit sind, dafür die abscheulichsten Barbareien zu begehen, wie ein abgerichteter Kampfhund. Fehlen noch die Schlimmsten von allen: diejenigen, denen das Töten Freude bereitet. Mörder, die zu dieser Gruppe zählen, kann man mitkeinem Tier vergleichen, denn das Übel, das in ihnen wohnt, lässt sie um viele Stufen niedriger sinken als jedes Tier. Und jetzt sagt mir, in welche Gruppe würdet Ihr Blaue Iris einordnen? In die der Wollüstigen, der Cholerischen, der Geisteskranken?«
Kan schnaubte.
»Du magst ja deine Fähigkeiten im Bereich der Knochen, der Waffen und der Würmer haben. Meinetwegen kannst du ein Buch darüber schreiben und dann Vorträge auf dem Marktplatz halten. Doch bei all deiner Klugheit hast du eine wichtige Kategorie vergessen, die blutrünstig ist wie nur wenige, dabei intelligent und bedächtig: die Schlange. Sie ist in der Lage, den richtigen Moment abzupassen, ihr Opfer zu hypnotisieren, um dann wie ein Peitschenhieb zum tödlichen Biss anzusetzen. Diejenigen, die zu dieser Gruppe von Mördern zählen, sind vergiftet vom Streben nach Rache. Oder von einem blindwütigen Hass zerfressen. Und ich versichere dir, Blaue Iris ist eine von denen.«
»Und womit hypnotisiert sie die Opfer? Mit ihren toten Augen?«
»Es gibt keinen blinderen Mann als den, der nicht sehen will!« Kan schlug
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