Der Totenleser
Kopf ging. Diese Frau war anders als alle Frauen, denen er bisher begegnet war. Sie war schön, und sie war klug. Sie wirkte zart und konnte hart sein. Man suchte unwillkürlich ihre Nähe, obwohl sie unnahbar war.
Ci wurde bewusst, dass er in Träumereien abglitt. Deshalb konzentrierte er sich rasch auf die Frage nach dem Bronzefabrikanten, die ihm unter den Nägeln brannte.
»Als ich mich gestern Abend von ihm verabschiedete, schien er nervös«, sagte Kan. »Ich erkundigte mich nach der neuen Legierung, an der er arbeitete und für die er sich überall feiern ließ. Bescheiden war er nie, aber ich kann mir nicht vorstellen, wer einen Grund hätte, ihn umzubringen.«
»Nicht mal Blaue Iris?«, fragte Ci.
»Das wirst du herausfinden müssen.«
29
Wenn du nicht aufpasst, wird sie auch dich verhexen.
Womöglich hatte Kan recht, denn seine Gedanken kreisten unentwegt um Blaue Iris. Ihr feingeschnittenes ovales Gesicht und die Tiefe ihrer ruhigen Stimme hatten sich in seinemKopf eingenistet. Und ihre blinden Augen, die niemals seine Narben entdecken könnten. Je mehr er versuchte, solche Gedanken zu verdrängen, desto hartnäckiger verfolgten sie ihn.
Er hatte nun beinahe den gesamten Morgen vertrödelt. Er schüttelte den Kopf. Er musste sich auf die Untersuchung konzentrieren. Vor allem, weil die Rückkehr von Grauer Fuchs näher rückte und die Informationen, die er aus Fujian mitbrachte, seine Hinrichtung bedeuten konnten.
Er betrachtete das Porträt des Toten. Am Anfang hatte er geglaubt, dass die Zeichnung ihm dabei helfen würde, den Mann zu identifizieren, doch da ihm weitere Indizien fehlten, wusste er nicht, wem er die Skizze vorlegen sollte. Lin’an zählte zwei Millionen Einwohner – wer von ihnen kam in Frage? Plötzlich hatte er einen Einfall. Die Narben! Was immer die Ursache dieser Narben war, sie war ganz sicher mit Schmerz verbunden gewesen. Und dieser Schmerz hatte den Toten vielleicht veranlasst, ein Krankenhaus aufzusuchen.
Die Anzahl von Krankenhäusern und Ambulanzen, die er hatte aufsuchen können, war begrenzt, und der Arzt, der ihn behandelt hatte, würde sich gewiss an einen Mann mit so ungewöhnlichen Malen erinnern. Er bat Bo, sofort mit der Suche zu beginnen und ihn über jeden Fortschritt auf dem Laufenden zu halten.
Anschließend beugte Ci sich über die einbalsamierte Hand des älteren Toten und notierte alle Berufe, bei denen man mit Säure in Berührung kam: Seidenfärber, Steinmetz, Papierbleicher, Koch, Wäscher, Fassadenmaler, Schiffszimmermann, Chemiker. Die Liste war entmutigend lang. Er musste die Suche einschränken. Außerdem würde er das amputierte Körperteil in die Große Apotheke von Lin’an mitnehmen, um die Angestellten zu befragen.
In Begleitung von Bo und seinen Männern brach er wenig später in die Stadt auf. Der Apotheker verzog keine Miene, als er die abgetrennte und entstellte Hand auf den Verkaufstresen legte.
»Ich möchte, dass Ihr die Hand aufmerksam betrachtet und mir sagt, ob Ihr je irgendeine Medizin für solch ein Leiden verschrieben habt.«
»Niemand würde sich wegen einer derart gewöhnlichen Sache in Behandlung begeben.«
»Und darf man erfahren, warum Ihr Euch da so sicher seid?«, fragte Ci.
Der Mann streckte seine Hände neben die amputierte Gliedmaße. »Weil ich selbst darunter leide.«
Ci musste schlucken. Als er sich von seiner Bestürzung erholt hatte, besah er sich die Narben an den Händen des Apothekers und verglich sie mit denen auf der Hand des Toten – sie waren identisch.
»Aber wie …?«, stammelte er.
»Es ist das Salz. Seeleute, Minenarbeiter, diejenigen, die Fische und Fleisch salzen, um sie zu konservieren … Alle, die täglich mit Salz in Berührung kommen, bekommen früher oder später diese Narben an den Händen. Ich selbst benutze es täglich, um meine Utensilien zu reinigen.« Dann blickte er Ci tadelnd an. »Aber es ist kein schlimmes Leiden. Und man muss deshalb wohl kaum gleich die Hand amputieren.«
* * *
Es hatte sich eine Tür geöffnet und eine andere dafür geschlossen. Nachdem eine Säure als Verursacher der Verätzungen auszuschließen war, kamen viele der Berufe auf CisListe nicht mehr in Frage, allerdings brachte der Zusammenhang mit dem Salz unzählige neue ins Spiel. Ein Viertel aller Bewohner Lin’ans lebte vom Fischfang, und wenn auch nur ein kleiner Teil davon den Fluss Zhe verließ, um im offenen Meer zu fischen, blieben sicher noch fünfzigtausend zu Befragende, wenn man die
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