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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Garrido
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ein.
    Als sie die Mauern des Palastes erreichten, ließen sie sich die Stelle zeigen, an der der Leichnam des Bronzefabrikanten gefunden worden war. Der Wachmann, der den Leichnam gefunden hatte, ein Koloss wie aus Granit, sagte aus, dass der Tote geköpft und nackt am Fuße der Mauer gelegen habe. Ci untersuchte die Blutspuren, die auf dem Steinweg zurückgebliebenwaren, zog ein Notizheft heraus und fertigte eine Kohleskizze der Flecke an. Er fragte den Koloss, ob er während seines Wachdienstes immer an derselben Stelle stehe, oder ob er regelmäßige Runden mache.
    »Wenn der Gong ertönt, machen wir dreihundert Schritte nach Osten, drehen um und machen weitere dreihundert in die Gegenrichtung. Dann kehren wir auf unseren Platz zurück und warten auf den nächsten Gong.«
    Ci fragte, ob er sich an irgendein anderes Detail erinnere, das seine Aufmerksamkeit geweckt habe. Der Mann verneinte. Doch Ci hatte auch so genug herausgefunden, um in den Ermittlungen ein Stück voranzukommen.
    * * *
    Während der Begehung der Kaiserlichen Gärten nahm Ci verschiedene Bodenproben, die er nun in seiner Kammer mit den Erdresten, die er unter den Fingernägeln und in den Hautfalten des Bronzefabrikanten gefunden hatte, vergleichen wollte.
    Die Bodenproben wiesen deutliche Unterschiede auf: Der Boden in der Nähe des Sees war feucht, kompakt und schwarz, ganz anders als der im Wald, der lockerer, heller und mit Kiefernnadeln durchsetzt war. Die dritte Probe, die er am Fuß des Balkons entnommen hatte, bestand aus kleinen zerriebenen Steinchen, die Erde an der Mauer hingegen hatte eine gelbliche Farbe, wahrscheinlich wegen der Tonerde, die als Mörtel für den Bau der Mauer verwendet worden war. Er griff nach dem Flakon, in dem er die bei der Leichenuntersuchung sichergestellten Partikel aufbewahrte, und schüttete den Inhalt neben das Häufchen Erde, das er neben der Mauer gesammelt hatte.
    Sie stimmten überein.
    Er schüttete die Probe vom Leichnam wieder in das Fläschchen zurück und etikettierte die anderen vier.
    Den Rest des Tages verbrachte er damit, seine Notizen durchzusehen und immer neue Thesen aufzustellen, die er anschließend wieder verwerfen musste, da die Logik an einem entscheidenden Punkt versagte. Er stöhnte und fluchte und zerbrach sich den Kopf. Die Zeit zerrann ihm zwischen den Fingern wie Wasser, bald würde Grauer Fuchs zurückkommen, und er hatte große Zweifel, dass es ihm gelingen würde, die Mordfälle bis dahin zu lösen.
    Vielleicht brachten Bos Leute verwertbare Ergebnisse aus den Krankenhäusern mit, in denen sie das Porträt des Toten vorlegten, und auch die Befragung der Arbeiter des Bronzefabrikanten stand noch aus. Doch Ci schöpfte nicht allzu viel Hoffnung, dass das eine oder das andere etwas Verwertbares zutage fördern würde.
    Seine Theorie mit der Lanze hatte sich als hinfällig erwiesen, und die einzige Alternative, die er ausgearbeitet hatte, nämlich die einer umgearbeiteten Armbrust, hielt einer näheren Betrachtung nicht stand. Warum sollte jemand einen schweren und massiven Pfeil konstruieren, der keine weiten Entfernungen zurücklegen konnte? Was hätte es für einen Sinn, eine nahezu perfekte Waffe in eine größere, schwerere und auffälligere zu verwandeln, die noch dazu schwieriger zu transportieren, zu laden und zu benutzen war?
    Er durfte Kans Annahme nicht von der Hand weisen. Was machte ihn so sicher, dass eine Blinde nicht in der Lage war, einen Mann zu töten?
    Der Duft der Toten, die Jade-Essenz, auf die nur eine Nüshi Zugriff hatte und mit der sie sich auch parfümierte, ließ Blaue Iris in Verdacht geraten. Und Kan zufolge hatte siemehr als einen Grund, den Kaiser zu hassen. Ein Hass, den ihr Vater mit der Legende von den Leiden ihres Großvaters Yue Fei geschürt hatte.
    Dennoch widerstrebte es ihm, sich die schöne Blaue Iris als kaltblütige Mörderin vorzustellen. Sein Herz zog sich jedes Mal zusammen, wenn er daran dachte, wenn er an sie dachte – und er dachte pausenlos an sie.
    Ein Klopfen auf der anderen Seite der Tür riss ihn aus seinen Tagträumen. Ci öffnete, es war Bo, der ihm mitteilte, dass der Transport der Gegenstände aus der Bronzewerkstatt begonnen hatte und dass Blaue Iris ihn am folgenden Tag im Seerosenpavillon treffen wolle.
    »Mich?«, fragte Ci erstaunt und errötete. »Aber sie ist eine verheiratete Frau! Wie kann sie einem Fremden ein solches Treffen vorschlagen?«
    Bo entgegnete, dass der Ehemann inzwischen zurückgekehrt sei und sich

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